Monat: März 2014

Klagelied über die akademische Philosophie in G-Moll

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Philosophie aus einem ihrer Kernbereiche zurückgezogen. Dieser Kernbereich war gekennzeichnet durch Vokabeln wie Textualität, Hermeneutik, Dekonstruktion und betraf vor allem philosophische Überlegungen zur Literatur, zu Ästhetik und Rhetorik, zur Philosophie als Text. Das heißt nicht, dass in den letzten zwei Jahrzehnten auf diesen Gebieten philosophisch nichts geschehen ist. Aber die Philosophie hat ihren Anspruch auf eine Deutungshoheit, auf Begriffsarbeit und auf die (kritische) Reflexion regionaler Geisteswissenschaften weitestgehend eingebüßt. Das Vakuum, das die Philosophie hinterließ, als sie sich auf ihre Geschichte und bald nur noch auf ihre Geschichte besann, wurde besetzt von jungen, aufstrebenden Disziplinen wie Medienwissenschaft und Theaterwissenschaft, vor allem aber von einer selbstbewussten und wichtige philosophische Topoi zu ihren Zwecken transformierenden Literaturwissenschaft. Wir sind der Überzeugung, dass mit diesem Rückzug der Philosophie aus ihrem hermeneutischen Hoheitsgebiet, wie es Mitte bis Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch gefördert und bearbeitet wurde, wertvolle neue und freie Konzepte der Welt- und Selbstdeutung entstanden sind. Die andere Seite dieser Entwicklung ist aber, dass durch die Fragmentierung des theoretischen Diskurses in eine Vielzahl von Post- und Neo-Theorien und in eine noch größere Zahl an Methoden, die genuin philosophische Frage nach der denkenden Rechtfertigung theoretischen Entwerfens in den Hintergrund, ja lokal in die Vergessenheit gerückt ist. Das meint die den Kulturwissenschaften vorgeworfene ‚Beliebigkeit‘, die dem freien Entwurf einer Perspektive, einer Sicht, einer ‚theoria‘ den Vorrang vor ihrer theoretischen Durchdringung und Prüfung im Logos durch eine als repressiv empfundene Philosophie den Vorrang gibt.

Was wir in der heutigen akademischen Philosophie wahrnehmen ist aber ein ganz anderes Bild als das, was von den Kulturwissenschaften zur Legitimation ihrer theoretischen Freiheit, in gewissermaßen negativer Idealisierung, von der Philosophie als Repressionsmacht gezeichnet wurde. Seit den Überwindungsbewegungen der französischen Theorie Anfang der 60er Jahre, seit den philosophisch-literarischen Experimenten, in denen sich intellektuell die soziale Unruhe dieser Zeit spiegelte, ist beinahe ein halbes Jahrhundert vergangen. In dieser Zeit ist die kritische Theorie, wie sie sich in den freien Entwürfen der Kulturwissenschaften ausdrückt, selbst bereits zu einer mächtigen, zu einer diskursmächtigen Tradition geworden. Mit der Instrumentalisierung kritischer Impulse zur stetigen Wiederbelebung – in den 70ern Wissenschafts- und Sozialkritik, in den 80ern Geschichtskritik und Kritik der Humanwissenschaften, in den 90ern Machtkritik, aktuell Kritik der Produktion und Reproduktion – hat diese Bewegung zugleich den kritisch-philosophischen Blick auf diese kritischen Theorien selbst beinahe verunmöglicht. Die akademische philosophische Rezeption begann mit ihrer eigenen Vergangenheit (und Vergangenheitsverhaftung) zu hadern – und verlegte sich auf’s Eigenteil, legte sich auf einen Kanon fest und festigte ihre Weltanschauungen. Es gibt bis heute keine kritischen Kommentare zu den immer wieder zitierten Grundwerken der Kulturwissenschaften, keinen historisch-kritischen Kommentar zu Foucaults Archèologie du Savoir, keinen historisch-kritischen Kommentar zu Derridas La Grammatologie, keinen historisch-kritischen Kommentar zu Lacans Seminaren, in deutscher Sprache. Das Spiel des Textes und das Spiel mit dem Text, das Experimentallabor der französischen sogenannten ‚Poststrukturalisten‘, so innovativ es vor einem halben Jahrhundert erschien, hat sich verselbständigt und reihenweise ratlose und zum Teil sogar uninformierte Kommentatoren im philosophischen Diskurs zurückgelassen, die sich durch wichtige philosophische Texte der Spätmoderne bewegen wie durch Kriegsruinen. Dabei wird immer wieder vergessen, dass diese Philosophen in der Tradition von Marx und Freud, Nietzsche und Heidegger, dass die Foucault, Derrida, Lyotard, Deleuze, Lacan, Badiou, Serres u.v.m. alle ihre philosophischen Studien bereits hinter sich hatten, als sie ihr eigenes Denken versuchten in Experimenten zu entwickeln. Das waren (und sind) keine theoretischen Halodris, keine dahergelaufenen Dampfplauderer, sondern Denker, die versucht haben – mit Wittgenstein gesprochen – gegen die Grenzen der Sprache, der Erfahrung, der Logik anzurennen, gegen alles das, was in der von sich selbst verzauberten Philosophie als unbefragte Grundlage angenommen wurde und wird. Viele von Ihnen haben dabei vor allem antike Denkfiguren erneuert und wiederbelebt, von der Sophistik über die Stoa, von Platon bis Augustinus reichen die z.T. mutigen, z.T. auch waghalsigen Relektüren der französischen Philosophie.

Foucaults Auseinandersetzung mit Kant und Hegel, Derridas Untersuchungen zu Husserl, Lyotards und Lacans Schriften zu Kant, zur Sprachphilosophie, zur Problematik von Imagination und Macht, Deleuzes Schriften zu Leibniz, Nietzsche, Bergson, Proust und Hume zeigen allesamt, dass diese angeblich ‚unverständlichen‘ Philosophen beides beherrschten, die Tradition ebenso, wie das Experiment. Das Letztere macht nur vor dem Hintergrund des ersteren Sinn; und so lässt sich feststellen, dass ein eklatanter Mangel der heutigen Kulturwissenschaften, der Lacanianer, Badiouianer, Foucauldianer, der Dekonstruktivisten, Postfundamentalisten, Neomarxisten usw. darin besteht, vor der Kür des Experiments die Pflicht der genauen und jahrelangen Beschäf-tigung mit der Tradition schlicht vernachlässigt zu haben. Dieser Befund gilt nicht nur für Studierende, er gilt ebenso für anerkannte Forscher und Lehrstuhlinhaber. Ironischerweise entspricht der Zustand der Theorie genau dem Bild, was von der sogenannten ‚Globalisierung‘ gezeichnet wird: Eine dezentrale Deutung von Welt, eine Fragmentierung der Idee, eine Streuung des Geistes – zugleich mit einer Monokulturalisierung der ‚wichtigen Themen‘ und einem jahrelangen Kulturkampf um ökonomische Ressourcen. Die philosophische Welt beginnt, sich von ihrer Tradition abzusetzen, als bräuchte jede extreme Bewegung eine extreme Gegenbewegung. Die philosophischen Leser werden weniger oder sterben ganz aus; die Aufmerksamkeit – und die Aufmerksamkeitsspannen – reichen nicht mehr, um einen Text zur Gänze zu lesen und zu diskutieren. Studierende der Geisteswissenschaften hören teilweise ganz das Lesen auf, als handle es sich um bloß inhaltliches Wissen, als handle es sich nicht um eine Praxis, eine Übung, ein laufendes Gespräch, das von der Achtung und der Redlichkeit und der Pflicht zur genauen und engagierten Lektüre lebt.

Ganze Zweige der akademischen Philosophie kennt die Philosophen, auf die sie herablassend hinunterschauen – als auf ‚Metaphysiker‘, ‚bloße Literatur‘, ‚bloß historisch bedeutsame Texte‘ – selber nur noch vom Hörensagen – oder, wie Ihre Schriften rückschließen lassen, aus einer eher kursorischen und stark durch unreflektierte Erwartungen aufgeladenen Lektüre. Wer so bei Kant Aufschlüsse über den ‚menschlichen Kognitionsapparat‘ und ‚mentale Repräsentationen‘ erwartet; wer Aristoteles und Platon nur noch ‚wissenschaftsgeschichtlich‘ aufarbeitet, wer 2500 Jahren logischen Denkens aus der eigenen, schmalen Perspektive einer bloß formalen, generalisierenden Logik ‚Ungebildetheit‘ und ’schlechte logische Ausbildung‘ vorwirft, der muss sich nicht wundern, wenn alsbald die eigenen Fragen zu einem scholastischen System des immer Gleichen verkommen. – Es wäre so einfach: Das eigentliche Hauptengagement im Philosophiestudium ist die Lektüre, nicht die teilnahmslosen Diskussionen im Proseminar. Und diese Diskussionen sind teilnahmslos, weil die Studierenden sich nicht mehr für die Auseinandersetzung mit der Philosophie interessieren. – An vielen Unis wird nicht mehr Philosophie, sondern Rhetorik und Sophistik und Metaphysik mittelalterlichen Ausmaßes gelehrt und gelernt. All das wird gedeckt durch eine an maximaler Selbstüberschätzung leidenden Selbstgerechtigkeit Texten gegenüber, die man nicht mehr kennt. Latein und Griechisch werden abgeschafft; diejenigen Fächer, wie die Sprachwissenschaften und verschiedene historische Wissenschaften, die uns so etwas wie ‚Geschichte‘ als reflektierten Horizont unseres Welt- und Selbstverständnisses ermöglicht haben, werden abgewickelt. Die Wüste wächst und mir ihr die leeren Stellen auf der Landkarte unserer Möglichkeiten. Wir verbauen uns nicht nur die Zukunft – durch beharrliche Ignoranz hinsichtlich unserer ökonomischen und ökologischen und sozialen Probleme – , wir verbauen uns auch die Vergangenheit – durch beharrliche Arroganz gegenüber dem Früheren, durch Anbetung einer ‚technischen Entwicklung‘, die teleologischer strukturiert ist als jede göttliche Vorsehung, und vor allem durch fehlenden Antrieb zur Lektüre und Diskussion, und durch fehlenden Mut, den allzu Selbstgerechten unter den akademischen Lehrern etwas entgegenzusetzen. Ein philosophischer Lehrer sagt einem nicht, wie es ist oder sein soll. Ein philosophischer Lehrer befähigt einen im besten Fall dazu, zu können was er kann. Und gehen uns nicht die Lehrer aus..? – Auf der anderen Seite gibt es wunderbare Lehrer, Menschen, die die Philosophie lieben und sie weitergeben können. Philosophen, die zu lesen und zu hören sich wirklich lohnt, weil sie vor allem an das erinnern, was wir drohen, zu vergessen. Vernunft ist immer auch anamnetische Vernunft – eine Vernunft ohne Erinnerung verkommt zum Glaubensbekenntnis.

Kants Kategorischer Imperativ – die Kurzfassung zum Mitnehmen

Kants Konzept des ‚Kategorischen Imperativs‘ aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft gehört zu den bekanntesten und zugleich häufig missverstandenen Philosophemen von Kants Philosophie (wie auch z.B. das ‚Transzendentale Ego‘ oder das ‚Ding an sich‘). – Deswegen hier einmal der Versuch, das Argument, ein wenig gestaucht, zum Mitnehmen zu reformulieren:

Das Ganze basiert auf einer Einsicht der praktischen Vernunft, einer ‚Interpretation‘, wenn man so will, der Vernunft durch die Vernunft: Weil wir vernünftig sein können, sollen wir es auch, weil wir wissen können, dass wir es können. Andernfalls würden wir uns freiwillig in die irrationale Dunkelheit begeben (und das will ja keiner… oder?)

Zunächst ein paar Grundüberlegungen: Eine Definition (de-finitio) ist eine Begrenzung von etwas, das in seiner Abgeschlossenheit und in seinen wesentlichen Eigenschaften benannt werden kann. Menschliches Handeln ist per se (als ‚praxis‘) zunächst ein Vollzug und daher nur im Nachhinein de-finierbar (eine Handlung war so-und-so, das-und-das). Auch wenn wir aus einem solchen Pool von Bedeutungen üblicherweise auch zukünftiges Handeln beschreiben, hält das keiner philosophischen Kritik stand (weil sonst die Grundlage menschlichen Handelns, die notwendige Annahme menschlicher Freiheit als seine Voraussetzung, in Frage gestellt würde = reflexiv inkonsistent oder performativer Widerspruch). Davon ausgehend:

… müssen wir etwas finden, was allen Handlungen – vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen – insofern sie Handlungen sind notwendig zugesprochen werden muss, sofern (!) diese Handlungen außerdem moralisch bewertbar sein sollen. Was wir aber allen Handlungen zusprechen müssen ist eine ‚Richtung‘, die sich in einem bestimmten Willen äußert. D.h. um eine Handlung moralisch zu bewerten, müssen wir unterstellen, dass mit Ihr eine Absicht verbunden ist. Diese Absicht ist allerdings, wie die Handlung als abgeschlossene Handlung selbst, nur im Nachhinein bestimmbar, wenn überhaupt. Also muss ein moralischer Imperativ grundsätzlich die Form eines kategorischen Imperativs annehmen, d.h. eines Imperativs für jede mögliche (denkbare) Handlung, sofern (!) es möglich sein soll, sie moralisch zu bewerten. Der Imperativ betrifft also die (logische) Bedingung der Möglichkeit jeglicher Handlung. Da wir aber von allen möglichen Absichten sprechen, können wir nun nicht jede einzelne Absicht durchgehen. Wir brauchen etwas, von dem unser konkretes Handeln als im Vorhinein richtig ausgeht, etwas, an dem es sich orientiert. Wir brauchen eine Handlungsmaxime, d.h. eine Hinsicht auf die Handlungsabsicht, als denjenigen Aspekt einer Handlung, in dem eine Übereinstimmung oder Vollkommenheit mit den eigenen Überzeugungen und Interessen angestrebt wird. Wenn ich handle, dann äußert sich in diesem Handeln eine bestimmte Absicht, die ich dadurch rechtfertige, dass ich mich auf eine bestimmte Überzeugung berufe, von der ich der Meinung bin, dass sie richtig und anerkannt ist. Das ist die Maxime der Handlung.

Wir dürfen dabei nicht vergessen: Kant geht es nicht um eine Ontologie menschlicher Handlungen oder um das bloße Aufstellen von moralischen Vorschriften. Sondern es geht ihm darum, den Menschen – das sind wir, seine Leser – vermittels einer Argumentation den Grund einsehen zu lassen, warum und wie moralische Urteile über menschliche Handlungen vernünftig rechtfertigbar sind. Seine Argumentation diktiert nicht, sie argumentiert. Das einzige echte Postulat, von dem sie ausgeht, ist, dass der Mensch die Welt als vernünftig eingerichtet, als zweckmäßig betrachten kann. Es geht ihm also um die logische Begründbarkeit von moralischen Urteilen.

Das bedeutet: (1) der kategorische Imperativ besteht nicht in einem einzelnen Satz (sowenig, wie der grammatische Imperativ auf „geh!“ oder „sitz!“ reduziert werden kann), sondern in der Struktur der Rückwendung der Vernunft auf sich selbst in kritischer Absicht: wenn ich wissen will, ob meine Handlung gut war, dann kann ich mich auf sie hinsichtlich dessen zurückwenden, was für sie, unabhängig von ihrem konkreten Vollzug, aus Vernunftgründen gelten soll. (2) Deswegen sind in den folgenden Formulierungen des kategorischen Imperativs auch die ‚Maxime‘, der ‚Wille‘ (die Handlungsabsicht) und das ‚zugleich‘ wichtig: Das ‚zugleich‘ bedeutet: Dein einzelnes, konkretes Handeln soll zugleich (im selben Zug, in derselben Bewegung) auf sich selbst in bestimmter Weise reflektieren:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

„Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.“

Wichtig ist: Es handelt sich hier nicht nur um Handlungsanweisungen, sondern auch um die philosophische Begründung von Kriterien zur Prüfung des eigenen Handelns. Wenn man sein eigenes Handeln moralisch prüfen will, dann indem man sich fragt, ob die Maxime des eigenen Handelns es für einen selbst erlaubt, dass sie – für einen selbst und jeden anderen – allgemeines Gesetz werde. Die Maxime ist hier das Reflexive: Durch sie wird etwas als etwas gerechtfertigt (wichtig: wird gerechtfertigt, nicht: ist schon gerechtfertigt!). Das was das bestimmt, was gerechtfertigt wird, ist der Wille. – Also: man reflektiert auf die eigene Handlungsabsicht – man reflektiert auf den Aspekt der eigenen Handlungsabsicht, welche die eigenen Überzeugungen betrifft (Maxime), also das, was man an ihr für verallgemeinerbar hält. – Man reflektiert schließlich hypothetisch darauf (‚zugleich‘), ob die Absicht, die Maxime der eigenen Handlung als allgemeines Gesetz zu wollen, das also dann auch für einen selbst noch gelten, einem selbst vorgeschrieben werden könnte von anderen, mit dem Vernunftinteresse (Übereinstimmung, Vollkommenheit, Vollständigkeit usw.), d.h. mit dem Postulat, dass die Welt vernünftig eingerichtet sein soll, übereinstimmt. Verglichen wird also die Verallgemeinerung der Maxime einer Handlung damit, ob sie hinsichtlich des eigenen Wollens als vernünftig eingesehen oder als unvernünftig verworfen werden muss. D.h.: Man kann jederzeit auch unmoralisch handeln. Aber man kann dieses Handeln dann nicht mehr vor anderen vernünftig rechtfertigen.

Wie man sieht, ist damit eine Reflexion, eine Rückwendung auf das eigene Handeln angesprochen. Und in dieser Rückwendung wird dafür argumentiert, dass allein der Ausgang von einem Vernunftinteresse die Begründbarkeit der eigenen Handlungen in moralischer Hinsicht ermöglicht – aber dass, wenn von einem solchen Vernunftinteresse ausgegangen wird, das Argument zwingend ist. Das ‚Vernunftinteresse‘ ist dabei nicht irgendetwas Metaphysisches, sondern das, was wir alle kennen: wir haben ein intrinsisches Interesse daran, dass eine Aussage nicht widersprüchlich ist, wenn sie eine Behauptung aufstellt, die für alle gelten soll oder dass etwas nicht alleine dadurch wahr ist, weil es gesagt oder gemeint wird. Wir streben danach, dass unser Denken mit sich und mit anderen übereinstimmt – und noch jeder Skeptiker oder Relativist strebt diese Übereinstimmung hinsichtlich der Anerkennung der Unmöglichkeit einer Übereinstimmung an. – Wir haben ein Interesse daran, dass Alles gesagt wird; wir streben nach Vollständigkeit; wir streben nach einer Befriedigung in unserem Fragen und Streben, danach, im Denken zur Ruhe zu kommen. Noch der zynischste oder polemischste Kommentar will etwas anderem ein Ende setzen, will seine eigene Sichtweise durchsetzen, sobald er öffentlich beachtet werden will. Wir wollen schließlich, dass die Welt einen Zusammenhang für uns besitzt, dass wir uns in ihr orientieren können. Dieses Interesse ist es, was Kant voraussetzt. Und dass Handeln eine Absicht hat und einer bestimmten Maxime folgt. –

Mit dem kategorischen Imperativ wird die moralische Instanz in den Bereich der Vernunft (des vernünftigen Nachdenkens) jedes Einzelnen verlegt. Und weil wir Handlungen zwar nur nachträglich beurteilen können, aber wir eine solche Nachträglichkeit uns in Bezug auf eine bestimmte Handlung vorstellen können und weil wir sie uns nicht nur hinsichtlich ihrer Bestimmtheit ansehen, sondern auch hinsichtlich der Maxime, die sie in Anspruch nimmt und diese Maxime beurteilen – können wir auch unsere möglichen Handlungen moralisch beurteilen. Um mehr geht es nicht. – Die Voraussetzungen und Grenzen dieser Argumentation der praktischen Vernunft sind deutlich: Man muss sein eigenes Handeln realistisch einschätzen können wollen und nicht unter dem Eindruck irgendeiner Ideologie handeln. Ausgangspunkt ist eine rationale Begründung, keine ontologische Einschätzung. – Wer sich ansehen möchte, wie Kant den Menschen auch gesehen hat, der werfe einen Blick in die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, entstanden aus Vorlesungen, die Kant während der knapp 25 Jahre der Niederschrift eines kritischen Programms gehalten hat. Dort – und nicht in der prinzipiell logisch angelegten Kritischen Philosophie Kants – findet sich all das, was den Menschen in seinen Niederungen und Pathologien ausmacht: Rachsucht, Machtspiele, geistige Krankheiten, unbewusste Motivationen, das soziale Spielen mit Rollen und Höflichkeiten, Egoismus und Modegeschmack.

Einführung in die Lektüre philosophischer Texte – Teil IV

Zum Abschluss noch ein paar Techniken zur Lektüre philosophischer Texte…

Am Anfang: Fangen Sie einen Text immer vorne an. Es ist richtig, dass man wissenschaftliche Literatur auch querlesen kann oder im Hinblick auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse nur abschnittsweise lesen kann. Aber Sie wollen einen philosophischen Text allererst verstehen und ihn nicht als Antwortautomaten gebrauchen. Dafür müssen Sie ihn also lesen, und zwar ganz. Lesen Sie immer alles, auch und insbesondere Vorreden, Vorworte, Einleitungen etc. Diese Texte mögen Ihnen unwichtig oder nebensächlich erscheinen – tatsächlich verbergen sich in ihnen nicht selten Verständnishilfen und, noch wichtiger, begriffliche Entscheidungen des Philosophen, die z.T. das gesamte Werk in ein anderes Licht stellen (z.B. bei Descartes oder Kant). Der Grund dafür liegt ganz einfach darin, dass jeder Autor auch Leser seines eigenen Werkes ist – und dass jeder philosophische Text, so gut durchdacht er auch sein mag, immer noch ein paar Reste aufweist, die der Autor dann zumeist in den Texten unterbringt, die er zuletzt schreibt – und das sind eben Vorreden, Vorworte etc.
– Lesen Sie bitte gründlich. Es ist wichtig, dass Sie den Text Satz für Satz lesen. Die berühmt-berüchtigte Komplexität, die Kompliziertheit philosophischer Texte dürfen Sie wörtlich nehmen: Da entfaltet sich vor Ihren Augen ein Gedankengang, der sich in Nebensätzen verzweigt. Das ist kein Zeichen von fehlender Präzision, nur weil Sie gewohnt sind, dass man vorliegende Gegenstände ‚wesentlich‘, d.h. unter Angabe ihrer wesentlichen Eigenschaften kurz und knapp beschreibt. Es ist im Gegenteil – nicht immer, aber sehr oft – das Zeichen des Versuchs, möglichst präzise zu formulieren und die eigenen Hinsichten möglichst klar zu bestimmen. Nehmen Sie sich die Zeit – es lohnt sich!

Lektüre heißt Lesen, Denken, Schreiben: Sie sollten immer mit einem Stift und einer Notizmöglichkeit lesen. Halten Sie ein Fremdwörterbuch bereit, ihr Latein-Wörterbuch (bei lateinischen Texten) in Griffweite und die Webseite der ‚Perseus Library‘ offen. Sie müssen damit rechnen, dass sich Ihr begrifflicher Wortschatz erweitern wird und erweitern muss, um philosophische Texte im Lauf der Zeit immer flüssiger lesen zu können. Sehen Sie es als eine Art Übung – ein wenig wie in dem Film ‚Karate Kid‘, wo Mr. Miyagi dem jungen Daniel seinen ersten Auftrag gibt: „Auftragen – Polieren – Auftragen – Polieren – …“. – Wie alles andere, wie Fahrradfahren, ein Instrument spielen oder eine Sportart, ist auch das Lesen philosophischer Texte am Anfang mühsam. Sie werden oft an Ihren Fähigkeiten zweifeln – aber geben Sie nicht auf! Es gibt zwar Menschen mit mehr oder weniger Sprachgefühl, die sich einen Text schneller oder weniger schnell erschließen können, aber im Prinzip kann jeder diese Texte lesen. Wenn Sie Latein oder Griechisch beherrschen, nehmen Sie sobald wie möglich den Originaltext zur Hand: gerade altgriechische Texte gewinnen noch einmal ein paar logische Dimensionen hinzu, wenn man sie im Original liest. – Und vergessen Sie nicht: Sie lernen während des Lesens nicht nur besser und präziser lesen; sie lernen auch strukturierter Denken, Sie schulen Ihr Gedächtnis, Ihr Sprachvermögen und können mit ein bisschen Übung vielleicht bald das eigentümlich Schöne philosophischer Texte begreifen. Sehen Sie sie als Entfaltungen vergangenen menschlichen Denkens. Als ein Angebot, ein Abenteuer zu erleben. Sehen Sie sie nicht als Lehrtexte, die Ihnen das Nötige über irgendein Thema beibringen. Sondern als eine Reise, ein Versprechen, ein Labyrinth.

Während der Lektüre: Wenn Sie im Text Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten entdecken oder etwas für Sie wie ein Widerspruch aussieht, dann vermerken Sie das für sich. Manche Dinge ergeben sich im weiteren Verlauf noch einmal aus einer anderen Perspektive, so dass einige Ihrer Anmerkungen überflüssig werden könnten, während andere vielleicht eine neue Wendung bekommen. Achten Sie zugleich kritisch und konstitutiv darauf, d.h. mit Blick auf mögliche Probleme ebenso, wie auf spätere Auflösungen der Probleme. Konstatieren Sie nicht gleich einen Widerspruch, nur weil Sie meinen, einen gefunden zu haben. – Sind Sie den Text mindestens einmal komplett durchgegangen, werden sich einige Probleme gelöst, andere ergeben haben. Unterscheiden Sie diese Probleme nach Ebenen: Inhaltliche Widersprüche, performative Widersprüche (wo der Text inhaltlich dem widerspricht, was er tut), für Sie Unverständliches, scheinbar Unsinniges und Falsches, dunkle oder unverständliche Stellen usw. Legen Sie eine gegliederte Liste all dieser Probleme an. – Dasselbe tun Sie mit Einsichten, die Sie meinen, für Probleme des Textes gewonnen zu haben, für das, was Ihnen als schlüssig am Text besonders auffällt, bestimmte Argumente, die Ihnen klar zu sein scheinen (nicht alles, aber was Ihnen eben besonders ins Auge fällt). – Wenn Sie schon einige Texte gelesen haben, notieren Sie sich Ähnlichkeiten und Unterschiede in Bezug auf andere Philosophen, Berührungspunkte mit dem Wissen, das Sie vorausgesetzt haben.
Versuchen Sie nun, Ihre Probleme zunächst von ‚innen heraus‘ zu klären, d.h. zuerst in nochmaliger Lektüre der Stellen vor dem Hintergrund des Ganzen, dann in Kontextualisierung mit Parallelstellen (wo derselbe Sachverhalt noch einmal anders dargestellt scheint). Versuchen Sie, so viele Probleme wie möglich aus dem Text heraus zu einer Lösung zu bringen. Erschließen Sie sich den Text auf diese Weise noch einmal: verfolgen Sie verschiedene Probleme und ihre Lösungswege, beobachten Sie ihre Verschränkung miteinander, beurteilen Sie, ob sie ineinandergreifen oder neue Probleme erzeugen. – Bedenken Sie dabei: Eine einzige Prämisse falsch zu verstehen und falsch einzuordnen kann den gesamten Text falsch verstehen lassen und die Dinge verzerren. Seien Sie sich bei Ihrer Kritik daher stets Ihrer Verantwortung dem zu kritisierenden Text gegenüber bewusst. Ändern Sie Ihre kritischen Prämissen, wenn Sie nicht weiterkommen – es ist sehr leicht, einem Text, der sich nicht mit mehr Worten verteidigen kann, als er enthält, irgendeine Sichtweise zu unterstellen. Vertrauen Sie auf sich: Sie können doppelt denken – wenn nicht, dann müssen Sie es lernen: Lernen Sie, zugleich kritisch und konstruktiv zu lesen, die Ebenen explizit auseinanderhalten zu können, mit Ihren Prämissen zu spielen, und beobachten Sie, wie sich Ihre Lektüre verändert. Versuchen Sie dabei möglichst früh, Auszüge aus dem Text und Ihrer Lektüre so anzulegen, dass Sie sie jemandem anderen darstellen können. Gehen Sie davon aus, dass jeder andere den Text anders versteht, als Sie ihn verstanden haben.
Wenn Sie einen Text über Ihren Text schreiben: Legen Sie den Text für Sie und verständlich und unter redlicher Bezugnahme auf den Text aus: es handelt sich ja nicht einfach um eine ästhetische Kritik oder Literaturkritik, sondern Sie stehen von Anfang an in der Verantwortung, den Text so auszulegen, dass andere Ihnen darin folgen können und ggf. folgen werden.

Die Lektüre von ‚Sekundärliteratur‘ und die ‚Diskussion‘ der Lektüre: Viele ‚kritische Anmerkungen‘ von scheinbar erfahreneren (akademischen) Philosophen, Studenten, wissenschaftlichen Mitarbeitern, Professoren usw., sind oft hilfreiche Anmerkungen, oft aber auch implizite Einforderungen von Unterwerfungsgesten, Ihnen und dem gelesenen Text gegenüber. Die Philosophie, als Kompetenz mit komplizierten Texten umzugehen, ist prädestiniert für Machtspielchen und Rechthabereien. Lernen Sie damit umzugehen. Die Kritik eines Professors, so die Vorstellung mancher Universitätsdozenten, sei als gewichtig hinzunehmen, weil sie etwas aufzuzeigen vermeint, was man selbst noch nicht gesehen habe. Nehmen Sie daher Ratschläge an, aber verfallen Sie nicht in blinden Glauben an eine solche Auslegung. Bleiben Sie kritisch: Auch Studenten, wissenschaftliche Mitarbeiter und Professoren sind Menschen und Leser wie Sie. Maßstab ist stets die Sache, also der Text – wer ‚hinter‘ dem Text nach einer Wahrheit sucht, sucht oft nicht nach der Wahrheit des Textes, sondern nach der eigenen Wahrheit. Nutzen Sie die Gründlichkeit, die solche Lektüren auf der Suche nach der ‚Textwahrheit‘ oft mit sich bringen. Aber machen Sie es ihnen nicht nach (es sei denn, Sie sind auf der Suche nach sich und nicht danach, Philosophie zu verstehen).
– Seien Sie auf der Hut: Es hat sich in der philosophischen Kommentarliteratur ein Ethos des ‚unermüdlichen Strebens‘ aus solchen Haltungen herausgebildet, eine ‚Suche nach der Wahrheit‘, die oft und eigentlch vor allem die Aushandlung von Unterwerfungsgesten bedeutet: „dieser Philosoph hat Recht, deswegen hat jener Unrecht“ – „alle Philosophen vor Frege haben eine unzureichende formallogische Ausbildung“ – „man wird nie wissen, was der Philosoph wirklich damit gemeint hat“ usw. Durchschauen Sie solche Manöver. Sie stützen oft auch bestimmte schulphilosophische Vorstellungen und versuchen die Leser, auf eine ‚Seite‘ zu ziehen. Nehmen Sie dementsprechend unbedingt die bestehenden Lektüren, in Monographien, Zeitschriften, Sammelbänden usw. in Anspruch – nachdem Sie Ihre eigene Lektüre abgeschlossen haben! Nur so können Sie mit dem Autor in einen Dialog über den Text eintreten und ihm ggf. auch widersprechen.
Zuguterletzt: Treten Sie in Kontakt mit anderen Lesern! Versuchen Sie, nach dem hier gegebenen Beispiel der „Zehn Philosophen“ die Sichtweise anderer zu verstehen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede für sich und für die anderen zu formulieren. Nur weil es sich um denselben Text handelt, ist nicht gleich jede Lektüre in einem absoluten Streit mit jeder anderen. Viele Lektüren ergänzen sich hervorragend, wenn man beginnt, sich zuzuhören. Versuchen Sie, das Verstehen und nicht das Rechthaben zu genießen. Viel Erfolg!

– Das ist der Abschluss der vierteiligen „Einführung in die Lektüre philosophischer Texte“. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber durchaus auf Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit meiner Vorschläge. Sie sollen ein Anstoß sein, philosophische Texte ohne Selbstherrlichkeit und Versagensangst zu lesen und gleichzeitig in der Lektüre präzise und gut informiert zu werden. – Vielen Dank für die Lektüre!

Einführung in die Lektüre philosophischer Texte – Teil III

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Text geschrieben, von dem Sie sicher sind, dass er konsistent ist. Nehmen wir an, er ist es tatsächlich. Nun sterben Sie. Ich nehme Ihren Text und verstehe Sie an vielleicht zwei zentralen Stellen falsch. Ich nehme das aber als Beweis dafür, dass Ihr Text inkonsistent ist. Das heißt: Ich kritisiere nicht etwa Ihren Fehler, sondern mein eigenes Missverständnis Ihres Textes. – Frage: Durch welche Autorität ließen Sie sich, wären Sie an meiner Stelle, von Ihrer Überzeugung – die Sie vielleicht überdies berühmt gemacht oder Ihnen zumindest einen lukrativen Job an der Universität verschafft hat – abbringen, dass Sie den Fehler gemacht haben – und nicht der von Ihnen kritisierte Autor? Vielleicht durch einen guten Freund Ihres Autors, der dessen Texte sehr wohl verstanden hat? Und wenn kein ‚Zeuge‘ mehr lebte? Durch die Schüler, die danach drängen, an die Gedanken ihres Lehrers anzuschließen und sie weiterzuverbreiten? Oder durch die Schüler der Schüler, die danach drängen, die inhaltliche Sachfrage des Autors anders oder besser zu beantworten und so versuchen den Autor zu ‚überwinden‘? – Lesen Sie Texte also von vorneherein auf ‚Fehler‘ hin (oder Probleme) – vielleicht aus Angst, der Autor könnte Sie quasi unversehens überrumpeln? – dann vergeben Sie die Möglichkeit, eine Unterscheidung treffen zu können ob Ihre Kritik wirklich die Darstellung des Autors – oder Ihr eigenes Missverständnis betrifft.
Als Leser haben Sie sich dann nie gefragt: Was setze ich als selbstverständliche Grundlage voraus? Was ist für mich ein unhinterfragbarer Horizont? Von wo aus beurteile ich die Gedanken anderer? Und ist das alles schon so klar, wie es scheint? –

Im Hinblick auf philosophische Texte sollte dieser Hintergrund möglichst minimal gehalten werden: (1) Jeder philosophische Text muss für seine Darstellungen und Begründungen Begriffe gebrauchen, die er nicht thematisiert (weil jede ‚Thematisierung‘ durch Begriffe geschieht) und (2) jede philosophische Begründung ist an den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch gebunden, weil ohne ihn so etwas wie ‚Geltung‘ nicht mehr denkbar ist. Was sich widerspricht ist beliebig oder im Ansatz dogmatisch und kann von jedermann jederzeit zurückgewiesen werden. Natürlich müssen Sie immer einen Verständnishorizont voraussetzen. Aber Sie dürfen diesen Verständnishorizont nicht im Vorhinein zum Geltungshorizont erklären. Der Unterschied zwischen diesen beiden Auffassungen der eigenen Lektürevoraussetzungen ist der Unterschied zwischen einer Position, die nichts (mehr) lernt und einer Position, die etwas lernen kann, weil sie es immer auch noch einmal anders auslegen, in einer anderen Hinsicht betrachten kann. Das bedeutet nicht, das die Auslegung beliebig ist. Sondern: dass die Lektüre sich hinsichtlich des Verständnisses dem anzumessen hat, was im Text steht und nicht umgekehrt. Und dass manche Probleme sich in Luft auflösen, wenn man dieselbe Textstelle erst von einem und dann von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet. Dieses Betrachtenkönnen ist gemeint – und nicht ein beliebiges Hineininterpretieren von ‚Meinung‘ in einen Text!

Beachten Sie, dass ‚Kritik‘ zunächst ganz leicht ist: Sie können immer um einen einmal gezogenen Kreis einen anderen Kreis ziehen. Weil Sie immer mehr sehen können als der Text gesehen hat (z.B. die Begriffe, die er nicht mehr thematisiert). Sie können jede systematische Darstellung historisieren (z.B. das Argument „dafür muss man sich einer bestimmten historischen Sprache bedienen“ – übersieht, dass Logik nicht identisch ist mit Sprache). Sie können jede Andeutung von geschichtlicher Kontingenz systematisch rechtfertigen. – Sie können sich auch eines Tricks bedienen und eine Äußerung eines Autors – etwa eine Selbstein- oder überschätzung – einfach zum ‚eigentlichen‘ Anspruch eines Textes erklären.

Warum ich Ihnen nahelege, erst einmal alles, was Sie über den Text zu wissen glauben, einzuklammern (nicht: zu vergessen)? Weil Sie lernen sollen, Ihre eigene Position, von der aus Sie einen Text befragen, mitzudenken, mitzureflektieren.

Einführung in die Lektüre philosophischer Texte – Teil II

Wenn Sie einen philosophischen Text an einem Rahmen messen, den Sie bereits als geltend vorausgesetzt haben – es sei eine bestimmte, ihnen selbstverständlich erscheinende, Überzeugung über die Welt oder eine bestimmte, von Ihnen favourisierte Position eines anderen Philosophen – dann wird der fragliche Text sie immer nur genau dann zufriedenstellen, wenn er den von Ihnen verabsolutierten Rahmen bestätigt und genau dann nicht, wenn er von diesem Rahmen abweicht. D.h.: Noch bevor sie den Text überhaupt gelesen haben, haben Sie ihn an einem Maßstab gemessen. Sie begehen einen logischen Fehler: Sie unterscheiden zwei Hinsichten – den Text und Ihren Rahmen – und verabsolutieren eine Hinsicht – Ihren Rahmen –, anstatt beide Hinsichten quasi gleichermaßen gelten zu lassen, um beide zu verstehen und dann kritisch aufeinander beziehen zu können. Daraus müssten Sie folgende Konsequenz ziehen: Sie müssten für die Lektüre eines philosophischen Textes alle Geltungen, alle Überzeugungen, von denen Sie meinen, dass Sie sich wohlbegründet auf sie beziehen, in Klammern setzen. –

Tun Sie das nicht, dann wird, bei fortgesetzter Lektüre philosophischer Texte, jeder Text immer wieder die Bestandteile Ihres Rahmens bestätigen, die Sie vorausgesetzt haben und Sie in ihrer Weltsicht affirmieren, so dass Sie eine Art Rangfolge aufstellen können, welcher Text Ihrer eigenen Weltsicht am nächsten kommt. Damit haben Sie aber nichts gelernt. Noch schlimmer: Sie verunmöglichen sich selbst das Lernen, weil Sie bereits eine Überzeugung haben, die Sie immer wieder bestätigt sehen wollen. Mit Ihnen ist dann kein Gespräch mehr möglich, nicht nur deswegen nicht, weil Sie von vornherein Recht behalten wollen (und nicht: andere Sichtweisen kennenlernen, neue Erfahrungen machen, das eigene Denken befragen), sondern weil Sie voraussetzen – implizit, ungesagt – dass Sie von vornherein das Recht haben, einen Text an einem Rahmen zu messen, den Sie als geltend voraussetzen. Oder, aus der Perspektive eines solchen Gesprächs: Den Sie dogmatisch als geltend eingeführt haben. Diese Einstellung wird oft verschleiert durch die übermäßige Betonung, man wolle den Autor natürlich ‚stark machen‘ usw. – oder man sei nur dann überzeugt, wenn ein Autor jeden einzelnen Aspekt, der für einen selbst fraglich ist, beantwortet. Schließlich kritisiert man also nichts anderes, als die eigene Differenz zum Text; man kritisiert den Autor dafür, dass er nicht mit einem übereinstimmt und hält ihm vor, dass er es nur dann überzeugend getan hätte, wenn man die eigene Meinung bestätigt gesehen hätte.

Versuchen Sie einmal, einen philosophischen Text ein wenig mehr, als Sie es vielleicht bisher gewohnt sind, wie Literatur zu lesen. Gemeinhin wird Ihnen erzählt: Lassen Sie sich bloß nichts erzählen! Stehen Sie dem Text kritisch gegenüber! Man gewöhnt Ihnen eine quasi ideologiekritische Haltung gegenüber einem Text an, die nichts anderes ist, als die stillschweigende Voraussetzungshaltung einer bereits als geltend angenommenen Perspektive. Lassen Sie sich nicht täuschen, der Text versucht sie nicht zu überrumpeln. Vertrauen Sie sich und dem Text. Die panische Angst, der Text könnte einen in der eigenen ‚noch unsicher schwankenden Meinung‘ (Platon) hinwegreißen, zeigt vielleicht auch ein Defizit in der Lektüreerfahrung auf. Oder haben Sie, wenn Sie J.R.R. Tolkien lesen, danach auch Angst davor, dass sich Orks unter Ihrem Bett verstecken? Sie müssen sich eine Art ‚doppelte‘ Haltung angewöhnen, die genuin philosophisch ist, d.h. die keine andere Disziplin in dieser Weise ausgebildet hat: Sie müssen einen Entwurf, um ihn zu verstehen, erst einmal in seinem Eigenrecht stehen lassen, sich in ihn versenken und lernen, sich gleichzeitig bei dieser Versenkung zu beobachten. Was in der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts als Hermeneutik, Rezeptionsästhetik, Wirkungsästhetik, Dekonstruktion thematisiert wird, das ist im Grunde nichts anderes als das präzise und auf vielfältige Faktoren aufmerksame Lesen von Texten.

Einführung in die Lektüre philosophischer Texte – Teil I

Die eigene Einstellung zu einem philosophischen Text, diese machtvolle Voraussetzung des eigenen Verstehens, Nichtverstehens, Missverstehens, Neuverstehens usw., gehört mit zu den am meisten ignorierten und vernachlässigten operativen Faktoren philosophischer Lektüre. – Damit ist gerade nicht die hermeneutische Behauptung der ‚Notwendigkeit von Vorurteilen als Voraussetzungen des Verstehens‘ in Frage gestellt, sondern deren Verkürzungen: (1) die Behauptung, zu wissen, dass jeder Leser bezüglich des Textes Vorurteile hat, hieße, bestimmte Vorurteile damit schon als unabdingbar gerechtfertigt zu haben, was voraussetzt (2) die Behauptung, zu wissen, dass Vorurteile notwendig sind, impliziere bereits, zu wissen, um welche es sich dabei handelt; schließlich (3) die Behauptung, eine Voraussetzung im Sinne des Verstehens sei gleichzusetzen mit einer Voraussetzung im Sinne des Geltens. – Das, von dem ich explizit weiß, dass ich es für mein Verstehen des Textes vorausgesetzt habe, kann ich aber genau deswegen methodisch behandeln, d.h. auch: verändern oder als bloße Annahme der Bedeutung kennzeichnen. So gerate ich nicht in die Gefahr, mein eigenes Missverständnis dem Text als Inkonsistenz zu unterstellen.

Philosophische Reflexionen, wie sie in Texten vorliegen, sind keine ontologischen Dinge, keine Behälter eines im Vorhinein endgültig festgelegten inhaltlichen Sinnes, sondern sie erschließen sich (!) dem Leser immer gerade so weit, wie dieser bereit ist, sich auf sie, ihre Gedankengänge und ihre Faktur (ihre sprachliche und logische Machart, Gegebenheit), ihre Argumente und ihre impliziten Operationen, einzulassen und sich in ihnen zu engagieren. Engagement bedeutet so nicht: Den Text als unverrückbare Wahrheit oder als zu kritisierende Perspektive auf eine wie auch immer schon vorausgesetzte Welt zu behandeln, sondern vielmehr: im Nachvollzug seines textlich positiv gegebenen Verlaufs auf diesen Nachvollzug zu achten und so im Nachdenken des Textes und über den Text auch die Bewegung des eigenen Denkens zu erfahren. Es bedeutet schließlich, in dieser Erfahrung – und nicht in einer irgendwie erreichbaren unmittelbaren Wahrheit – die eigentlich philosophische Erfahrung zu sehen und diese Lehren über das fremde und das eigene Denken als einen wertvollen Schatz zu betrachten, der uns zeigt, dass Denken gelingen kann – dass dies aber eher selten ist. Das Wie des Gelingens und des Nichtgelingens des Denkens, das Wissen über die Versuche, das Denken zu regieren und dieser Regierung zu widerstehen, ist niedergelegt in 2500 Jahren philosophischen Denkens. – Es ist eine Karte vergangener Wegstrecken, die dazu einlädt, diese Wegstrecken (immer) wieder zu beschreiten, sich zu verirren, wieder zurechtzufinden und in alldem sich langsam, aber unaufhörlich, über die Macht des (eigenen und nicht-eigenen) Denkens klar zu werden. 

Das Gleichnis von den zehn Philosophen

I. Der Streit

Stellen Sie sich zehn Philosophen vor, die um einen runden Tisch herum alle über denselben philosophischen Text streiten: Was der Text eigentlich sagen will, was die vom Autor ursprünglich intendierte Bedeutung dieses oder jenes Textteils sei, welche die dem Text zugrundeliegende Wahrheit ist. – Die zehn Philosophen äußern zehn verschiedene Ansichten über den Text und rechtfertigen diese z.B. mit angesehenen wissenschaftlichen Meinungen: mit einem sogenannten ‚Klassiker‘, der kanonischen Meinung eines Forscherkollektivs oder eines renommierten Exegeten des betreffenden Philosophen; mit ihrer langjährigen Erfahrung in der Auslegung philosophischer Texte (Professoren vs. Studenten), mit der expliziten oder impliziten Hinzunahme weiterer Texte des Autors des betreffenden Textes als Interpretans, vorzugsweise solcher Texte (z.B. auch in einer alten oder neuen Fremdsprache), die den anderen weitestgehend unbekannt sind; mit historisch-biographischen Anekdoten aus dem Leben des Philosophen als Interpretans, vorzugsweise aus dem Abfassungszeitraum des betreffenden Textes usw. – Diese zehn Meinungen versuchen sich also in ihrer Interpretation mit ‚geborgten‘ Geltungsansprüchen zu übertrumpfen, sei es ein nicht von allen geteilter Wissensvorsprung (dieser und jener Quelle, dieser und jener Interpretation), sei es ein autoritatives Legitimationsargument („X sagt Y – und X ist anerkannt/seriös/renommiert, deswegen glaube ich ihm“). – Dabei ist auffällig, dass (1) jeder einzelne Philosoph versucht, das Recht seiner Interpretation gegen alle anderen durchzusetzen, dass (2) das Interpretans wie selbstverständlich aus einem Bereich gewählt wird, der möglichst nicht allen anderen zugänglich ist, dass schließlich (3) dem fraglichen Text ein ursprünglicher Sinn unterstellt wird, den es mit Hilfe der ‚richtigen‘ Interpretation oder Methode herauszufinden gilt – wobei paradoxerweise jede ‚richtige‘ Interpretation dann gerade keinen Einspruch mehr von anderen zulassen darf. Eine solche Interpretation, die gleichsam das Gegenstück zu einem unterstellten ursprünglichen oder identischen Textsinn darstellt, muss also eine höhere Geltungsdignität aufweisen als alle anderen, konträr dazu formulierten, Interpretationen. – Im Verlauf des Gesprächs werden sich diejenigen Geltungsansprüche durchsetzen, die die höchste Dignität – durch schiere Überredung, durch implizites oder explizites Machtgebahren – auf sich vereinigen können. Abweichende und extravagante Meinungen werden dann als randständig und dem herrschenden Diskurs widersprechend gekennzeichnet werden. Das ist gleichbedeutend mit der Etablierung einer bestimmten Diskursmacht („Aha, so gewinnt man also einen Disput, das mache ich ab jetzt immer so“), einer Diskurspolizei („das ist seriös/unseriös“) und einer Diskurshoheit („X sagt… und deswegen ist es richtig“).

II. Das Zutrauen

Stellen wir uns nun vor, jeder der zehn Philosophen würde allen anderen nicht nur seine eigene Interpretation zugänglich machen, sondern auch diejenige Position, von der aus er sie vertritt: D.h. die hermeneutischen Vorentscheidungen darüber, auf was er sich in seiner Interpretation bezieht; die aus seiner Sicht für alle anderen auch geltenden Voraussetzungen für die Interpretation dieses Textes (oder aller möglichen anderen); die Kriterien seiner Bewertung eines Textes und die Überzeugungen darüber, inwiefern diese Kriterien für alle anderen auch gelten sollen. – Mit dieser ‚Explikationsbewegung‘ würde jeder der zehn Philosophen allen anderen seine Voraussetzungen zugänglich machen, d.h. jeder andere könnte sich probehalber auch auf seine Position stellen oder ihn umgekehrt dazu einladen, zusätzlich zu seiner Position einmal eine andere Perspektive auszuprobieren. – Der Bezugspunkt der Interpretationen wäre damit nicht irgendein implizites Wissen oder ein durchzusetzender Geltungsanspruch, sondern der Text selbst inklusive des jeweiligen und bestimmten Bezugs zum Text – womit jede Interpretationsposition als Aufeinanderbezogensein von Interpretans und Interpretandum für alle anderen einsehbar, einnehmbar und hinsichtlich Reichweite und Konsistenz überprüfbar wird.

III. Das Gemeinsame

Stellen wir uns schließlich die Konsequenz daraus vor: Einige Positionen werden sich in Bezug auf ihre Textauslegung als unhaltbar erweisen, weil sie implizit jeden Text ihrer eigenen Überzeugung unterordnen: sei diese geprägt durch bestimmte Vorstellungen von Wissenschaft, Logik, Empirie, Sprache, Geschichte, Biographie, Psyche oder Rationalität im Allgemeinen; sei diese bestimmt durch Glaubensüberzeugungen oder der Annahme einer (impliziten) Letztbegründung, also das, was für die Philosophen, die diese Positionen vertreten, als unhinterfragbare Wahrheit, Tatsache usw. gilt: das Sein, die Wahrheit, der Ursprung, das Unmittelbare, die Evidenz. Diese Positionen müssten zuallererst in eine Rechtfertigung dieser Überzeugungen eintreten, weil sie nicht einfach davon ausgehen können, dass derselbe vom selben Rahmen aus spricht, wie sie selbst. – Einige Positionen wiederum werden sich als Verkürzungen in Bezug auf den Text erweisen: es wird solche geben, die den Text von einer bestimmten Textstelle, die als besonders klar erscheint, zu erschließen versuchen, und die damit den Text verzerren wie eine Bleikugel auf einem Gummituch; solche, welche bestimmte Leitbegriffe anlegen, von denen sie annehmen, dass sie in einer stillen Asservatenkammer der Begriffsgeschichte neben ihrem konkreten Gebrauch schlummern und für jeden Text dasselbe bedeuten müssen; schließlich solche, welche gleich einfach die für sie ‚dunklen‘ Stellen fortlassen und sich den Text so zurechtschnitzen, das, was nicht passt, eben passend gemacht wird – allesamt also ‚Abschattungen‘ des Textes, einseitige Betrachtungen, die einen mereologischen Fehlschluss begehen, indem sie von einem Teil auf das Ganze schließen. – Dann wird es Positionen geben, welche den Text für eine Rede über Dinge halten und sich auf die inhaltliche Haltbarkeit der Behauptungen beziehen, andere werden den Text als eine Begründung oder Rechtfertigung einer Rede auffassen und von daher den Maßstab der reflexiven Widerspruchsfreiheit anlegen – die allermeisten jedoch werden eine Mischung der genannten idealtypischen Positionen vertreten, was aber dadurch, das alle die Voraussetzungen aller anderen kennen, gemeinsam geklärt werden kann, unter Berücksichtigung der Verschiedenheit der einzelnen Perspektiven. – Das Wichtigste ist jedoch: Nun sind nicht mehr einzelne ‚Lesarten‘ mit Alleingeltungsanspruch thematisch, sondern die Art und Weise der Hinsicht auf den Text inklusive der zugehörigen Interpretation – wodurch für alle sichtbar wird: (1) ob Hinsicht und Interpretation zusammenpassen, (2) welche Aspekte des Textes von welcher Interpretation in Betracht gezogen werden, (3) dass unterschiedliche Ansätze auch unterschiedliche Interpretationen hervorbringen können, aber zugleich auch Gemeinsamkeiten aufweisen, auf die man sich dann zusammen aus Vernunftgründen (und nicht in einer Abstimmung) einigen kann. Wenn Philosophen begreifen und anderen begreifbar machen von wo aus sie sagen können, was sie sagen, dann wäre Philosophie wieder als ein Gespräch möglich, das bei allem Dissens den Anderen als denjenigen achtet, der überzeugt werden muss. Der Dissens wird nicht aufgehoben, sondern er wird so erst voll begreifbar gemacht: als Pluralität von Lektürehinsichten auf ein und denselben philosophischen Text.

„Wenn wir nun seiner [Thrasymachos] Rede eine andere gegenüberstellen […], und dann wieder er, und dann wieder wir, so wird es schließlich nötig sein, die Vorteile zu zählen und zu messen, die jeder in seiner Rede anführt, und dann werden wir Schiedsrichter brauchen, die zwischen uns entscheiden [und: ihre Entscheidung ihrerseits begründen usw.]. Führen wir dagegen die Untersuchung [so, dass] wir zu einer Übereinstimmung kommen, dann sind wir selbst Richter und Anwälte [unserer Rede] zugleich.“ (Platon, Politeia 348a-b)

Philosophie, als Kunst der Rechtfertigung, ist nicht: Recht behalten wollen – Millionen von Theorien aufstellen, die alle a priori gelten sollen – letzte Ursachen bestimmen – bloße rhetorische Schulung in der Diskussion. Philosophie ist: Einen Dialog führen – eine Behauptung aufstellen – eine Begründung geben – die Möglichkeit der eigenen Begründung und derjenigen jedes anderen bedenken – Aufmerksamkeit auf die gemeinsam geteilte Rede und die darin gebrauchten Begriffe.