Versuch über die Unentscheidbarkeit

I. Unentscheidbarkeit als reflexives Phänomen

Das Phänomen der ‚Unentscheidbarkeit‘ gehört zu den Topoi moderner Zivilisationskritik, die Vielfalt der Möglichkeiten der Spätmoderne zu beklagen, den Überfluss an Waren, Dienstleistungen, Lebensstilen und Selbstauslegungen als Überforderung zu deuten, die unsere Entscheidungsfreudigkeit lähmt, statt sie zu befördern. Diese Klage ist freilich keine Erfindung der Spätmoderne. Seit dem Zusammenbruch der dogmatischen Weltdeutungssysteme zwischen 1789 und 1848 sind restaurative wie kritische Bewegungen vor allem Reaktion auf die Krise der Vielfalt, der Pluralität, der überbordenden Möglichkeiten – im doppelten Genitiv: Krise der Vielfalt und Pluralität als reflexives Konzept, als Ermöglichungsraum, der zu verschwinden droht – und Krise, die durch eine scheinbare oder wirkliche Vielfalt und Pluralität, zu bloßem Relativismus oder Dogmenpluralismus reduziert, fortlaufend die schwindenden Anker der Tradition bedroht. Lukács‘ ästhetische Diagnose der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ (1916) hallt noch wider in Habermas‘ ’neuer Unübersichtlichkeit‘ (1985) und Sloterdijks Versuch über ‚Die schrecklichen Kinder der Neuzeit‘ (2014); solche Diagnosen reichen ihrerseits zurück auf die großen Krisenreflexionen bei Marx und Kierkegaard, Nietzsche und Freud. Und diese sind wiederum nur ein Echo auf noch früher einsetzende, vor allem ästhetische, Thematisierungen und Performanzen des Pathos und der Pathologien der Vollständigkeit und des Systems. Typische Beispiele dafür finden sich in der Kunst der Romantik, bei Hölderlin und Novalis im Postulat der Freiheit der Dichtung oder bei Schubert und Beethoven, ihren jeweils letzten Klaviersonaten, in der Inszenierung von Transzendenz oder vom Nichtanfangen- bzw. Nichtmehraufhören-Können. – Die Denkfiguren ähneln sich: Freiheit und Transzendenz – oder nur regressive Annäherung an ein uneinholbares Ganzes oder Ideal? Ermöglichende Negativität – oder doch nur repetitive Negation, in der ewigen Wiederkehr des Und-so-weiter?

Doch auch ohne diesen ganz großen ideengeschichtlichen Rahmen scheint uns ‚Unentscheidbarkeit‘ ganz konkret alltäglich zu begleiten: Wir wissen nicht, was wir tun sollen, welche Wahl oder Entscheidung wir teffen sollen, was das Beste in der Situation, für uns, oder überhaupt ist. Wir erfahren eine ‚Qual der Wahl‘, einen Überfluss an Möglichkeiten, der uns lähmt, statt uns zu befreien: Er schickt uns in den Double-bind der gleich gültigen besten Entscheidungsmöglichkeiten, der dann jede Entscheidung gleichgültig werden lässt.

Aber was wir so unter ‚Unentscheidbarkeit‘ begreifen, differenziert sich bei näherer Betrachtung aus in ganz verschiedene Phänomene.

In dem eingangs skizzierten Rahmen der repetitiven Zivilisationskritik entsteht sie vor allem aus der These, dass die Durchstreichung eines dogmatischen Ausgangspunktes die Durchstreichung jedes möglichen Tertiums bedeutet. – Die Negation des einen Extrems, des Dogmatismus, kann so ins andere Extrem fallen, den Nihilismus oder Zynismus. Der Verlust von so etwas wie ‚Ursprung‘ lässt alles ins ‚Nichts‘ fallen – „aus Nichts, zu Nichts, für Nichts, in Nichts“; das ist schon der Vorwurf Jacobis an Fichte und es bleibt Problem noch für Nietzsche, der verzweifelt eine Lösung sucht für diese Aporie, diese Ausweglosigkeit: „Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig!“ – Eine Position kann sich aber auch dieser Aporie verweigern und in einen Relativismus verfallen, in dem alle Wege gleich aussehen und keiner vor dem anderen bevorzugt werden kann. Richtet man sich dogmatisch in dieser Überzeugung ein, dann erscheinen auch alle anderen Wege dogmatisch – und der Weg für ein Gemeinsames wird wenigstens im Antagonismus wieder frei: Das ist der Weg der Polemik, des Sophismus, des um sich selbst kreisenden dogmatischen Skeptizismus.

Unsere alltägliche Wahrnahme von ‚Unentscheidbarkeit‘ bewegt sich ebenfalls in solchen Mustern: Nicht alles ist ‚unentscheidbar‘, nur weil wir uns in skeptische All-Sätze flüchten. Ein Dilemma, in dem die eine Alternative so gut oder schlecht aussieht wie die andere, in dem Entscheidung unmöglich erscheint, kann sich im nächsten Moment auflösen, wenn deutlich wird, woraus die Aporie sich ergibt: Mal sind es zu hoch gegriffene Kriterien wie a priori uneinlösbare Ansprüche auf Vollständigkeit oder extensive Letztgültigkeit, die ein Dilemma erzeugen; mal ist es schlicht (noch) fehlende Information über die eine oder die andere Alternative. Wer eine Entscheidung treffen muss und sich fragt, was der beste Weg ist, muss sich erst einmal darüber klarwerden, was das eigentlich sein soll und in welcher Hinsicht: das ‚Beste‘. Oft genug stellt sich dieses ‚Beste‘ dann als Überdetermination heraus: Die Wahl des neuen Partners, neuen Autos oder der neuen Wohnung soll am besten gleichzeitig alle Probleme gleichzeitig lösen, soll glücklich machen, befriedigen, dem moralischen Anspruch genügen, soll den Eindruck von Oberflächlichkeit brechen und doch funktional sein, soll Ausdruck der eigenen Persönlichkeit sein und das Leben erleichtern. Aber all das ist noch keine ‚Unentscheidbarkeit‘, sondern eher ‚Unentschiedenheit‘, unmöglicher Anspruch an etwas, das man durch die Korrektur des Anspruches von einem Problem in eine Lösung verwandeln kann.

Echte ‚Unentscheidbarkeit‘ tritt dagegen dort auf, wo entweder eine Gewaltsituation vorherrscht, die in einen Double-bind zwingt oder wo die Entscheidung für eine Alternative dieselbe Alternative reflexiv wieder unmöglich macht.

Die Gewaltsituation wird dadurch etabliert, dass jemand anderes oder man selbst bei zwei möglichen Alternativen jede dieser Alternativen und noch das Zurücktreten von der Entscheidung selbst mit einer negativen Sanktion belegt. Die Gewaltsituation zwischen zweien, die also nicht performativ funktioniert, macht Gregory Bateson an einem Beispiel deutlich, das auch den Ausweg aus dieser Situation aufzeigt:

Ein Zen-Meister „geht […] so vor, daß er einen Stock über den Kopf des Schülers hält und grimmig sagt: ‚Wenn du sagst, dieser Stock sei real, werde ich dich damit schlagen. Wenn du sagst, dieser Stock sei nicht real, werde ich dich damit schlagen. Wenn du nichts sagst, werde ich dich damit schlagen.‘ […] Der Zen-Schüler könnte über sich greifen und dem Meister den Stock wegnehmen – der diese Antwort akzeptieren würde […].“ *)

Dieses Beispiel ist natürlich bereits ein Meta-Beispiel, eine didaktische Situation, die, indem sie das Instrument der Sanktion selbst zum Thema macht, die eigene Umkehrung bereits anzeigt. Ersetzt man aber den Inhalt nach „Wenn du sagst…“ durch etwas Beliebiges, ergibt sich die typisch dogmatische Struktur eines Gewaltverhältnisses, das den Glauben an die Überlegenheit des Täters gerade durch die Androhung von Sanktion und die gleichzeitige Inszenierung von Willkür erzwingt.

Double binds können aber auch Ausdruck eines imaginären Selbstverhältnisses sein. Bateson gibt als Beispiel den Fall eines Schizophrenen an, zu dessen Therapiesitzung der Arzt zu spät kommt. Aus der Sicht des Schizophrenen ist das Zuspätkommen des Arztes die erste negative Sanktion; die zweite ergibt sich aus der Angst des Patienten, vom Arzt getadelt zu werden, wenn er seinen Ärger anspricht; die Therapiesitzung schließlich sorgt dafür, dass der Patient die Situation nicht einfach verlassen kann:

„Er wird dann etwa sagen: ‚Ich hatte mal einen Bekannten, der ein Schiff verpaßte, er hieß Sam, und das Schiff wäre fast gesunken … usw.‘ So entwickelt er eine metaphorische Geschichte, und dem Therapeuten steht es nun frei, darin einen Kommentar zu seinem Zuspätkommen zu entdecken oder nicht. Das Vorteilhafte an einer Metapher ist, daß sie es dem Therapeuten […] freistellt, je nach Wunsch eine Anklage in der Feststellung zu erblicken oder sie zu ignorieren.“ *)

Die Geschichte, die der Schizophrene erzählt, verbleibt in einer Unentschiedenheit, die sich durch die Notwendigkeit ergibt, unentscheidbar zu sein, um der negativen Sanktion zu entgehen. Sie ist insofern unentscheidbar, als dass die Geschichte selbst gerade ihren Bezug auf die reale Situation verbergen muss, um diesen Bezug auszudrücken und als etwas ganz anderes erscheinen kann.

So kann auch Literatur eine Antwort auf Double binds sein, eine Praxis der Unentscheidbarkeit als Lösung für die als negative Sanktion wahrgenommene Festlegung, Schuldzuweisung oder Gewalt. Solche Formen der Unterscheidbarkeit legen die tiefe Verwandtschaft der modernen Literatur mit Pathologien der Vollständigkeit und des Selbstbezugs offen: Melvilles Bartleby, dessen ‚I would prefer not to‘ zumeist als radikale Verneinung des Systems oder als Macht der Negation gefeiert wird, entfaltet, performativ gewendet, das schreckliche Schicksal eines Mannes, dessen Lebensvollzug von kontingenten Missverständnissen abhängig ist: (I would prefer not to say:) ‚I would prefer not to‘ – etabliert durch die Reflexivität des ‚I‘ und der Offenheit des ‚to…‘ – ist die erste negative Sanktion, die von jeder negativen, irritierten oder wütenden Reaktion als zweiter negativen Sanktion erst dazu gebracht wird, das anfänglich nur vermeintlich verneinte tatsächlich zu verneinen. Es ist dann gerade die christliche Nächstenliebe des freundlichen, aber etwas cholerischen Anwalts, die Bartleby dazu zwingt, seine eigene Negation (die Negation der Negation ist, aber nicht als solche erkannt wird), als Imperativ anzuerkennen. – Ein drittes Beispiel gibt Urs Schällibaum in Reflexivität und Verschiebung (2001):

„‚I can’t say ‚cake‘.‘ ist Ramseys Beispiel, zweifellos ein lustiges, für den performativen Widerspruch. Wie aber, wenn der Sprecher sagen wollte: ‚I can’t say ‚flake‘.‘ – und ebendies nicht sagen kann? Wer kann das wissen, gerade wenn der Satz selbst dies nicht anzeigt, nicht anzeigen kann? Der Satz wäre dann nicht ein performativer Widerspruch, sondern performativ konsistent. Aber auf furchtbare Weise.“ **)

Dieses Beispiel weist schließlich in dem Hinweis auf den performativen Widerspruch auf die vielleicht bekannteste Form reflexiver Unentscheidbarkeit hin, das Paradoxon. Im Gegensatz zum Double bind, der den Effekt der Unentscheidbarkeit durch die Besetzung jeder Alternative durch negative Sanktionen erzeugt, also Kontexte a priori dogmatisch festlegt, ergeben sich Paradoxien aber gerade durch die Reduktion von Kontexten. Das wohl bekannteste Paradoxon ist das sogenannte ‚Lügner-Paradoxon‘ oder ‚Kreter-Paradoxon‘: „Epimenides der Kreter sagt: Alle Kreter lügen“ – oder in einer kürzeren Version: „A: A ist falsch“. Das Paradoxon erscheint genau dann, wenn folgende Frage gestellt wird „Ist A wahr oder falsch?“ und dann festgestellt wird „Wenn A wahr ist, ist A falsch und wenn A falsch ist, ist A wahr“. Die Frage, ob A wahr oder falsch ist, ist unentscheidbar – weil jede Entscheidung ihr Gegenteil zur Folge hat. – Doch diese Unentscheidbarkeit ist ein Schein. Denn der Effekt der Paradoxie ergibt sich nicht aus zwei, sondern aus drei Teilen: [Wahr ist:] A: A ist falsch. Der Widerspruch besteht nicht zwischen dem, was A sagt und A, sondern zwischen dem, was A sagt und der Annahme über A. Doch wie sinnvoll ist die Annahme, dass eine Aussage der Form „A: …“ a priori wahr oder falsch ist? Die Paradoxie entsteht durch diese Annahme und dadurch, dass sie, weil sie zur Fragestellung zu gehören scheint, als Kontext reduziert wird. Doch es ist gerade diese Fragestellung und ihre implizite Annahme „Alles, was A sagt, ist wahr / falsch“, die sie erst erzeugt. Und ebenso wie im Beispiel mit dem Zen-Meister kann hier der Schüler den Stock aus der Hand des Meisters nehmen und sagen: Die Annahme, dass alles, was A sagt, a priori wahr oder falsch ist, ist Unsinn. Und „A: A ist falsch“ ist dann einfach, wenn er Geltung behauptet, ein performativer Widerspruch.

Performativer Widerspruch und Unentscheidbarkeit – performativer Widerspruch oder Unentscheidbarkeit; dieser Zusammenhang führt im zweiten Teil dieses Beitrags auf eine philosophische Thematisierung von ‚Unentscheidbarkeit‘: Jean-François Lyotards Le Différend, dt. Der Widerstreit (In der Zusammenfassung seines Grundproblems stütze ich mich, wie schon im ersten Band von Vom Gebäude zum Gerüst (erscheint im Herbst 2015), auf die Analyse von Urs Schällibaum in Reflexivität und Verschiebung).

II. Der Widerstreit

Lyotards Text ist eine Auseinandersetzung, so könnte man sagen, mit Phänomenen der Unentscheidbarkeit und der reflexiven Widersprüchlichkeit, der Verunmöglichung, die auf der Metaebene wieder eine Ermöglichung bedeutet. Das Grundproblem wird etabliert gleich im ersten Absatz:

„Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [différend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. […] Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide [Parteien] zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu […].“ ***)

Der erste Satz etabliert , und zwar auf mehreren Ebenen zugleich, den ‚Widerstreit‘: Inhaltlich ist ein Widerstreit ein Fall von Unentscheidbarkeit, ein Fall also, der nicht entschieden werden kann, weil ein Tertium fehlt. Performativ tut der Satz aber genau das: Er entscheidet, was den Unterschied von ‚Widerstreit‘ und ‚Rechtsstreit‘ ausmacht, indem er ein Kriterium, eine Urteilsregel angibt. Daraus ergibt sich eine Antinomie, eine ‚Unentscheidbarkeit‘ auf der reflexiven Ebene:

„1. Wenn LD [Le Différend] von seinem Gegenstand différend spricht, hat er seinen Gegenstand auf der beschreibenden, benennenden, beurteilenden Ebene zu einem beurteilbaren Streitfall gemacht; folglich gibt es den Gegenstand différend nicht. 2. Wenn LD von seinem Gegenstand différend spricht, hat er seinen Gegenstand auf der beschreibenden, benennenden, beurteilenden Ebene zu einem beurteilbaren Streitfall gemacht; folglich kann LD seinen Gegenstand gemäß Prämissen gar nicht darstellen. Die Antinomie sieht dann kürzer so aus: Wenn LD différend darstellt, gibt es différend nicht, oder: Wenn LD différend darstellt, dann produziert LD selbst einen différend.“ **)

Wenn Lyotard sagt, was der ‚Widerstreit‘ ist, dann gibt es keinen ‚Widerstreit‘ – oder aber er erzeugt einen ‚Widerstreit‘ zwischen der Unentscheidbarkeit dessen, was ‚Widerstreit‘ ist und seiner Entscheidung darüber, was ‚Widerstreit‘ ist. Wenn es den ‚Widerstreit‘ gibt, dann kann nicht gesagt werden, was er ist und folglich kein Kriterium angegeben werden dafür, dass es ihn gibt – oder: Wenn gesagt wird, dass es den Widerstreit gibt, dann erzeugt genau dieses Sagen einen Widerstreit, in dem Versuch, einen ‚Widerstreit‘ wie einen ‚Rechtsstreit‘ zu entscheiden:

„Entweder gibt es différend nicht oder es gibt différend, nämlich mindestens einen im Text LD, den er gemäß eigenen Prämissen produziert. Und genau diese richtige Folgerung ist die eigentliche Antinomie. Sie ist nicht entscheidbar. Und genau das ist […] der ‚différend‘ genannte Sachverhalt.“ **)

„[D]er Referent ‚différent‘ lässt sich nicht zeigen, aufweisen, präsentieren, da dieser gemäß Prämisse […] nur da vorliegt, wo er selbst nicht erscheint, da, wo er missverstanden wird. […] [E]s besteht die Gefahr, in der Folge der Prämissen entweder ‚différend‘ niemals als solchen beschreiben zu können, oder ‚différend‘ auf der Ebene der Beschreibung kommensurabel zu machen. […] Ein Widerstreit […] verschiebt sich in die Reflexionsstruktur ’seiner‘ Darstellung im so betitelten Text. […] [Dieser Text] […] zeugt vom Widerstreit. Selbst in einem Double-bind-Verhältnis, exponiert der Text in seiner Ambivalenz, was ‚différend‘ sei […].“ **)

Auch hier spielt ein Effekt der Kontextreduktion eine entscheidende Rolle: Denn die Antinomie wird nicht nur durch die Reflexivität von ‚Widerstreit‘ und ‚Rechtsstreit‘ erzeugt; sie ergibt sich auch und vor allem durch die Reduktion auf diese beiden Fälle, so dass jeder Aussage über den ‚Widerstreit‘ a priori unterstellt wird, eine definitorische, dogmatische, endgültige zu sein – oder aber nie abgeschlossen werden zu können. Die Metapher des Gerichts etabliert die richterliche Entscheidung als Modell des Urteilens – folglich wird die Behauptung etabliert, dass jede Form von Aussagen a priori nach diesem Modell gedacht werden muss. Denn jeder Satz kann als Entscheidung und Kriterium für vorhergehende Sätze inszeniert werden. Das lässt sich aber auch umkehren: Sofern der ‚Widerstreit‘ auf den Umstand bezogen werden kann, dass hinter jeden Satz, selbst wenn er ein ‚Erstes‘ oder ‚Letztes‘ behauptet, noch ein Satz gesetzt werden kann, jede Entscheidung immer noch durch einen weiteren Satz wieder in Zweifel gezogen werden kann, erscheint der ‚Widerstreit‘ als Auslegung dieses Könnens – folglich wird die Behauptung etabliert, dass jede Form von Aussagen a priori nach diesem Modell des ‚Widerstreits‘ gedacht werden muss. Diese dialektische Ausschließlichkeit drückt sich als eine weitere Antinomie aus:

„1. Es gebe nur den Streitfall und nicht den Widerstreit, da ja immer geurteilt und gelöst werden könne mit irgendwelchen […] Regeln; 2. Es gebe nur den Widerstreit, da jede Beurteilung als solche einen Widerstreit erzeuge, da die beigezogenen Beurteilungsregeln einer anderen Gattung zugehörten als die beurteilten Regeln.“**)

Die Unentscheidbarkeit von Unentscheidbarkeit und Entscheidbarkeit ist ein Schein. Sie ergibt sich aus der Verabsolutierung, einem false dilemma zwischen „in keinem Fall entscheidbar“ und „in jedem Fall entscheidbar“. In Lyotards Etablierung des ‚Widerstreits‘ wiederholt sich so das Verhältnis von Dogmatismus (Alles) und Nihilismus (Nichts) oder die Behauptung des Paradoxons, „Alles“ sei a priori entweder „wahr“ oder „falsch“.

III. Unentscheidbarkeit als Praxis

Logisch betrachtet ist ‚Unentscheidbarkeit‘ eine Illusion. Sie ergibt sich aus der Etablierung zweier Alternativen als gleichwertig und zugleich einander ausschließend, bloß inhaltlich oder auch reflexiv. Aber nicht jeder Text steht a priori unter dem Imperativ, Geltung behaupten und rechtfertigen zu müssen. In dogmatischen Kontexten, das zeigen Batesons Beispiele, kann ‚Unentscheidbarkeit‘ vielmehr eine Praxis sein, die den Umstand ausnutzt, dass dogmatische Kontexte stets begrenzt sind: Der Punkt, von dem aus ‚Alles‘ definiert werden muss, ist, wenn er dogmatisch ist, immer ein bestimmter; es ist geradezu Kennzeichen des Dogmatismus, dass er versucht, das, was er unter ‚Alles‘ versteht, als das zu setzen, was alle anderen unter ‚Alles‘ zu verstehen haben. Die ‚Unentscheidbarkeit‘ richtet sich dann entsprechend in einem Ort ein, den der Dogmatismus nicht festlegen kann, weil die Festlegung eben nur das trifft, was er darin sehen will. Sie gibt sich als etwas aus, das sie zugleich ist und nicht ist, und eben darin schafft sie sich einen Raum, auch anderes zu sagen und sagen zu können. Sie ist in diesem Sinne eine Praxis der Freiheit, des Nicht-Alles, der Nicht-Inkonsistenz der eigenen Rede, die ihre eigene reflexive Partikularität begreift und zum Einsatz bringt. In Kontexten, in denen es nicht mehr um Geltung geht, kann dann diese ‚Unentschiedenheit‘ für etwas stehen, z. B. für die Freiheit des Autors oder der Autorin, sich selbst zu erschaffen, ohne Anspruch auf letzte Konsistenz oder Kohärenz. Auch Satire greift auf Unentscheidbarkeit zurück: um den machtkritischen Satiriker durch Mehrdeutigkeit zu schützen – oder um die Mehrdeutigkeit dazu einzusetzen, die Reaktionen auf einen satirischen Beitrag in die Satire mit einzubinden. – Als Reaktion auf einen vermeintlichen oder wirklichen Dogmatismus kann sie aber auch zu einer Praxis der Verzweiflung gerinnen. Die Versuche, sie zu verstehen, kann sie als dogmatischen Versuch interpretieren, sie doch zur Entscheidung zu bringen, sie auf einen Aspekt festzulegen – und wird darauf wieder genauso reagieren. Der Einsatz von ‚Unentscheidbarkeit‘ kann dann in den verzweifelten Versuch einmünden, im Verstandenwerdenwollen nicht verstanden werden zu wollen.

‚Unentscheidbar‘ ist schließlich nur das, was voraussetzt, dass etwas (noch) ‚entschieden‘ werden soll oder muss. Dieser Satz muss der ‚entscheidende‘ sein – oder dieser – oder dieser – oder dieser… usw. Vielleicht aber muss gar nicht entschieden werden, muss die Entscheidung nicht ausgesetzt werden, weil es sie nicht gibt – oder weil sie, umgekehrt, schon längst getroffen wurde. Wer ‚Unentscheidbarkeit‘ einsetzt, reagiert oft mit einem „ich kann nicht…!“ oder „Ich will nicht…!“ auf ein „du sollst…!“. Aber vielleicht gibt des dieses „du sollst…!“ gar nicht. Was es gibt, ist das „ich kann nicht…!“, das, in sich selbst, bereits eine Entscheidung zu etwas ist. Wer sich darüber beklagt, keine Entscheidungen treffen zu können, hat sie bereits getroffen, in dieser Klage:

„Sag nicht, dass du das nicht kannst. Du kannst sagen ich kann nicht. […] Sag nicht: Ich kann es nicht. Oder aber lerne es in der Weise der Calypso zu sagen, oder jener des Telemach, des Narbal oder der Idomenea. […] Du wirst nicht aufhören, Weisen zu finden, ich kann nicht zu sagen, und bald wirst du alles sagen können.“****)

*) Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1981, S. 278, 280.
**) Schällibaum, Urs: Reflexivität und Verschiebung, Wien 2001, S. 304, 281-283.
***) Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit, übers. v. Joseph Vogl, 2. Aufl. München 1989, S. 9.
****) Rancière, Jacques: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über intellektuelle Emanzipation, übers. v. Richard Steurer, hg. v. Peter Engelmann, 2. Aufl., Wien 2009, S. 36

2 Kommentare

  1. Unentscheidbarkeit gehört nicht nur zu den Topoi der Zivilisaionskritik, sondern ist Kernstück modernen Entscheidungstheorie à la Luhmann, von Förster und eben Derrida. Eigentümlich, dass Sie dessen Namen in diesem Kontext nicht erwähnen:

    „Das Unentscheidbare ist nicht einfach nur das Schwanken oder die Spannung zwischen zwei Entscheidungen, es ist die Erfahrung dessen, was dem Berechenbaren der Regel nicht zugeordnet werden kann, weil es ihnen fremd ist und ihnen gegenüber ungleichartig bleibt, was dennoch aber — dies ist eine Pflicht — der unmöglichen Entscheidung sich ausliefern und das Recht und die Regel berücksichtigen muss. Eine Entscheidung, die sich nicht der Prüfung des Unentscheidbaren unterziehen würde, wäre keine freie Entscheidung, sie wäre eine programmierte Anwendung oder ein berechnbares Vorgehen. […] Jeder Entscheidung, jeder sich ereignenden Entscheidung, jedem Entscheidungs-Ereignis wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne, wie ein wesentliches Gespenst. Sein Gespensterhaftes dekonstruiert im Inneren jede Gegenwarts-Versicherung, jede Gewißheit, jede vermitliche Kriteriologie, welche die Gerechtigkeit einer Entscheidung (eines Entscheidungs-Ereignisses) (ver)sichert, ja welche das Entscheidungs-Ereignis selbst sicherstellt. (Derrida, Gesetzeskraft, S.49ff.)

  2. Ach, so eigentümlich ist das gar nicht. Die knappe historische Situierung der ‚Unentscheidbarkeit‘ erhebt natürlich an keiner Stelle einen Anspruch auf Vollständigkeit. Und da es mir vor allem auf den Zusammenhang von Reduktion und Regress oder Dogmatismus und Skeptizismus, als Formen impliziter Reflexivität, ankam, ist das eben eine Hinsicht und die von Ihnen vorgeschlagene eben eine andere.

    Da ich – wie in meinem „Willkommen“-Text dargelegt – Philosophie nicht als Ansammlung von „Theorien über x“ begreife, liegt mir auch eine Auseinandersetzung mit der sogenannten „Entscheidungstheorie“ eher fern. Aber: Natürlich sind Luhmann (man könnte ergänzen: G. S. Brown), von Foerster und Derrida Exponenten für eine Explikation von ‚Unentscheidbarkeit‘, weil sie ja auch alle drei mit reflexiven Konzepten operieren: Luhmann explizit in der Explikation der reflexiven Immanenz von ‚Systemen‘; von Foerster in einem reflexiven Möglichkeitsbegriff; Derrida schließlich in der Auslegung von Reflexivität als ‚différance‘, dem bei Schällibaum und bei mir der Begriff (besser: die Explikation) der ‚reflexiven Verschiebung‘ entspricht.

    Man könnte auch noch Luce Irigaray nennen, Slavoj Žižek, einige Sophisten…

    Zu Ihrem Derrida-Zitat, der für mich Wesentliches anspricht: Hier scheint es mir weniger um das zu gehen, was ich oben ‚Unentscheidbarkeit‘ genannt habe und mehr um eine Instanz dessen, was auch die ‚différance‘ anzeigt und was ich die ‚Uneinholbarkeit der logischen Position‘ nennen würde. Derrida thematisiert, in meiner Lektüre, hier vor allem die Struktur von ‚Transzendenz‘, von dem also, das gerade nicht ‚vollständig‘ eingeholt, ‚entschieden‘ werden kann. Bei mir geht es mehr um die Ambivalenz, die durch Reflexionsstrukturen wie Lyotards ‚Widerstreit‘ oder die anderen Beispiele ins Werk gesetzt werden. Der Unterschied ist hier aber nur minimal: Während Derrida die ‚Unentscheidbarkeit‘ zugleich als Inkommensurables (‚Uneinholbares‘) und als (hier wohl: postulativ) Notwendiges („dies ist eine Pflicht“) auszeichnet, verortet er „es“ gerade nicht als Widerspruch, sondern als Ermöglichendes, wenngleich sich der Festlegung (wohl aber reflexiv eben nicht: der Explikation) Entziehendes. Lyotard wiederum – wie auch die angeführte Paradoxie des Lügners – nimmt dieses Verhältnis als performativen Widerspruch und etabliert ihn zwischen Inhalt und operativer Ebene des Textes, so dass er genau dann da ist, wenn er verunmöglicht wird. Oder anders gesagt: Derrida expliziert noch die Struktur, die Lyotards ‚Spiel‘ erst möglich macht. So jedenfalls meine Auslegung. Diese Struktur nenne ich dann ‚Reflexivität‘ – sie gerinnt nur dann zur ‚Unentscheidbarkeit‘, wenn man die Differenz mit nur einem Relat, als die sie erscheint oder die logische Position, als die man sie immer nur nachträglich auslegen kann, mit einer Sache verwechselt, die sich genau dann entzieht, wenn man sie eingeholt zu haben scheint. Nimmt man sie nicht als Sache, sondern – wie im Übrigen Derrida (und vor ihm schon Platon, Plotin, Cusanus, Spinoza) als „Differenz-zu-…“, löst sich die ‚Unentscheidbarkeit‘ auf in reflexive, also nachträgliche Konsistenz – die ‚Differenz‘ ist das, was ich immer schon vorausgesetzt haben werde – für DIESE Explikation (das ist schon Platon).

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