Philosophie in den Medien – Zur Funktion philosophischer Doxographie am Beispiel von Habermas‘ Diskursethik

Wenn Journalist*innen sich auf philosophische Ansätze berufen, geschieht das, was in jeder Rezeption geschieht: Man stellt eine Behauptung über den philosophischen Ansatz auf. Meist geschieht das im Vorbeigehen, denn journalistische Texte sollen leserfreundlich sein. Komplexität und Vermittlung müssen einander die Waage halten. Deswegen berufen sich Journalist*innen meistens weniger auf den tatsächlichen Gehalt philosophischer Texte, sondern beziehen sich eher auf die doxographisch überlieferten Gestalten philosophischer Ansätze. (Doxographie: die Darstellung der Lehre). Denn die sind, anders als die philosophischen Texte, zunächst und zumeist geteiltes philosophisches Allgemeinwissen.

Da ist dann die Rede vom platonischen Ideenhimmel, von der mittelalterlichen Metaphysik, vom Irrationalismus der deutschen Romantik oder von der französischen Postmoderne, von Nietzsches Nihilismus oder Heideggers Existenzialismus. Dass diese doxographischen Artefakte in den jeweiligen Texten keinerlei Grundlage haben, dass sie vielmehr Verzerrungen der dort gegebenen Argumentation sind, die aus oberflächlichen oder polemischen Lektüren entstanden sind, wird selten gesehen. Denn dazu müsste man die Texte auch studiert haben.

I. Der Jahrmarkt der Weltanschauungen und seine Reproduktionsbedingungen

Die meisten Journalist*innen, die über Philosophie schreiben, haben ein entsprechendes Studium absolviert. Allerdings garantiert ein solches Studium gerade nicht, dass man weiß, wovon man spricht. Wer sich ein bisschen in der akademischen Welt der Philosophie auskennt, weiß, dass es dort oft fast genauso abläuft wie im öffentlichen Diskurs: Bekannte Lehrer, unkritisch übernommene Seminarinhalte, im Zitierkartell produzierte Mehrheitsmeinungen beherrschen den Diskurs.

Dazu trägt die Eigenart der Philosophie bei, kein einheitliches methodisches Instrumentarium zu besitzen. Diesen Missstand haben manche Philosophen dadurch behoben, dass sie einfach ihr Verständnis von Philosophie per ordre de mufti zum Goldstandard erklären. Andere wiederum nehmen die Absenz methodisch verbindlicher Regeln zum Anlass, Philosophie im Sinne gebotener Beliebigkeit zu verstehen – die Freiheit des Denkens wird verwechselt mit der Pflicht, das Gedachte überzeugend darzulegen. So wird Philosophie schon dort, wo sie gelehrt werden soll, zum Jahrmarkt der Weltanschauungen.

Beides, die fortlaufende journalistische Verabeitung und die akademische Produktion von Doxographie, ist derart weit verbreitet, dass ganz aus dem Blickfeld gerät, dass beides eigentlich Ausdruck einer Verlegenheit ist. Und solange man unter Philosophie irgendwelche Gedanken in den Köpfen längst verstorbener Philosophen versteht und Texte vor allem als Trägermedien sieht, in denen diese Gedanken in seltsamen Sätzen irgendwie verschlüsselt sind, wird diese Verlegenheit auch verborgen bleiben.

Diese Verborgenheit wird nämlich bedingt durch einen dritten Faktor, der die Bedingung der Möglichkeit akademischer Produktion und journalistischer Verwertung ist: durch die Art und Weise der Lektüre philosophischer Texte. Insbesondere eine bestimmte Form der Hermeneutik macht Journalisten wie akademischen Philosophen zu schaffen: Text und eigentlich Gemeintes müssen getrennt voneinander behandelt werden.

Diese Hermeneutik kommt durch eine Übertragung aus dem Alltag zustande: Im Alltag dient das gemeinsame Gespräch häufig nur dazu, uns gegenseitig zu versichern, dass wir eigentlich das Gleiche meinen. So vermeiden wir Konflikte und die stillen Voraussetzungen, die uns Sicherheit geben, bleiben intakt. Werden sie dennoch in Frage gestellt, dient das gemeinsame Streitgespräch dazu, sie als Grenzen zu markieren. Wenn wir durch unsere alltägliche Welt laufen, dann ist das, was der andere sagt, für uns vor allem Ausdruck seines Innenlebens. Es ist Transportmittel seiner Absichten, Wünsche und sonstigen Gedanken.

Überträgt man diese Hermeneutik auf Texte, dann ergibt sich ein Ratespiel: Texte, die auf dahinterstehenden Sinn, dahinterstehende Absichten (des Philosophen) oder ein eigentlich Gemeintes verweisen, das sich in ihnen oder durch sie hindurch ausdrückt. Und der Sinn, die Absichten, das eigentlich Gemeinte, das wir anhand der Texte zu erraten versuchen. Es ist leicht einzusehen, dass dieses Ratespiel kein Ende finden wird. Denn wenn beliebige Absichten unterstellt werden können, kann auch ein Text Beliebiges ausdrücken. Es ist erschütternd, wie viele hauptamtliche Wissenschaftler dieses Ratespiel mit Forschung verwechseln.

Alle drei Aspekte – Journalisten, die Philosophen funktionalisieren, Akademiker, die sie als Autoritäten etablieren und eine Lektüre, die Texte als Vehikel nie erreichbarer ursprünglicher Gedanken versteht – sorgen dafür, dass sich Philosophie als Jahrmarkt der Weltanschauungen erhält. Der einzige Trost ist vielleicht, dass dieser Jahrmarkt besteht, seitdem es Philosophen gibt.

II. Gibt es ein Diktat der Diskursethik?

In einem SZ-Beitrag vom Winter 2018 (Link unten) gibt die Publizistin Svenja Flaßpöhler ein gutes Beispiel für die oben entwickelte Problematik. Das ist umso erstaunlicher, als Flaßpöhler als promovierte Philosophin (‚Der Wille zur Lust‘) und Chefredakteurin des ‚Philosophie Magazins‘ eigentlich vom Fach ist, in Sachen kritischer Textrezeption also als kompetent gilt. Thema des Beitrags ist die Frage, wie mit rechtem Denken und rechten Diskursbeiträgen umzugehen ist. Flaßpöhler verfolgt dabei ein relativ durchschaubares Manöver, das in der Gegenüberstellung eines Philosophen und einer Philosophin besteht, wobei ersterer schlecht, letztere gut wegkommt. Die Philosophin ist Hannah Arendt, der Philosoph Jürgen Habermas. Über ihn schreibt Flaßpöhler nun das hier: „Zur Kerneinsicht seiner deliberativen Demokratietheorie gehört, dass nur zum öffentlichen Diskurs zugelassen wird, was ‚vernünftig‘ ist. Der ‚Unvernunft‘ darf kein Ohr geschenkt und keine Stimme gegeben werden, um die Demokratie als solche nicht zu gefährden.“ Als Beleg zitiert sie ein Interview, das Habermas den Blättern für deutsche und internationale Politik 2016 gegeben hat (Link unten) – und fasst ihr Zitat folgendermaßen zusammen: „Habermas‘ Antwort lautete vor zwei Jahren: Ignorieren und Ausgrenzen.“

Mit dieser Habermas-Rezeption ist Flßpöhler aber nicht allein. Auch Jan Feddersen, studierter Soziologe, schreibt in einem Beitrag in der taz: „Jürgen Habermas […] verficht entschieden, dass am Diskurs nur teilnehmen darf, wem Vernunft attestiert werden kann.“ Feddersen zitiert ebenfalls aus dem betreffenden Interview mit Habermas, um diese Auslegung zu legitimieren und auch er schließt mit einer knackigen Zusammenfassung: „Sätze, die durchgeatmet werden müssen: Welch elitäre Gönnerhaftigkeit, was für ein Entzug jeder Fähigkeit zum demokratischen Sprechen.“

Im Folgenden will ich mich mit beiden Thesen beschäftigen:

(1) Es ist eine Kerneinsicht der deliberativen Demokratietheorie, dass nur zum öffentlichen Diskurs zugelassen wird, was ‚vernünftig‘ ist und die ‚Unvernunft‘ darf weder gehört werden, noch selbst sprechen, damit die Demokratie nicht gefährdet wird (Flaßpöhler)

(2) Habermas vertritt kategorisch („entschieden“), dass am Diskurs nur teilnehmen darf, wem Vernunft attestiert werden kann (Feddersen)

Dazu müssen insgesamt drei Aspekte geklärt werden: Vertritt Habermas die genannten Positionen in seinen Texten zur deliberativen Demokratie? Vertritt er sie in seinen Texten zur Diskursethik? Und was tut er in dem Interview, auf das sich beide als Legitimation ihrer Aussagen beziehen?

III. Proseminar Textanalyse, dritte Sitzung

Der erste Aspekt ist am schwierigsten zu klären. Denn Habermas‘ Texte zur deliberativen Demokratie beschreiben weder, wie Demokratie aktuell ist, noch stellen sie kategorische Forderungen auf, wie sie seiner Meinung nach zu sein hat. Sie behandeln vielmehr ein philosophisches Problem: Wie lassen sich das liberale und das republikanische Modell der Demokratie vorteilhaft vereinen? Um dieses Problem zu beantworten, entwirft Habermas ein Modell, macht also einen Vorschlag, wie man Demokratie verstehen müsste, damit beide Formen von Demokratie als gerechtfertigt erscheinen.

Nun kann man im Rahmen eines solchen Modells immer noch die Forderung aufstellen, die Flaßpöhler Habermas zuschreibt. Man könnte zum Beispiel argumentieren, dass die Kombination beider Demokratieformen es erfordert, Formen von Unvernunft aus dem Diskurs von Vornherein auszuschließen. Das wäre freilich ein grober Schnitzer, den Habermas da machen würde, denn erstens widerspricht ein solcher Ausschluss nicht nur dem liberalen Modell von Demokratie, er steht dem republikanischen Modell sogar entgegen, das gerade mit der Unvernunft als Möglichkeit rechnet. Er wäre auch unvereinbar mit dem Anspruch einer deliberativen Demokratie, dass die Diskussion vor der Entscheidung steht und nicht umgekehrt. Die gesamte Fragestellung verlöre ihren Sinn.

Doch bei Habermas findet sich nichts dergleichen. Vielmehr betont er in seinen Aufsätzen zur deliberativen Demokratie auf allen möglichen Ebenen immer wieder, dass in seinem Modell ethisch-politische und moralische Diskurse keinerlei Ausschlusskriterien voraussetzen dürfen bzw. dass ein solcher Ausschluss problematisch ist (vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, im Folgenden FuG, S. 80, 223-224, 323, 395, 678). Flaßpöhlers Behauptung (1), ein Ausschluss des Unvernünftigen aus dem Vernünftigen sei eine „Kerneinsicht“ des Modells der deliberativen Demokratie von Habermas, ist diametral falsch.

Man kann davon ausgehen, dass Flaßpöhlers Einschätzung etwas mit den doxographischen Vorurteilen zu tun hat, die über Habermas in der Öffentlichkeit kursieren. Ich möchte hier nur auf zwei Konzepte eingehen, an denen man den Übergang von Argument in Vorurteil exemplarisch beobachten kann: den zwanglosen Zwang des besseren Arguments und den „herrschaftsfreien Diskurs“. Beide werden üblicherweise so verstanden, dass Habermas davon ausgeht, das Gegenüber werde sich schon überzeugen lassen, wenn das Argument nur zwingend genug formuliert ist und dass die Voraussetzung dafür ein herrschaftsfreier Diskurs ist, der natürlich in der Realität nie gegeben ist (vgl. dazu aber FuG 395).

Der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ ist, bei Habermas, zunächst einmal eine idealtypische Charakterisierung der bürgerlichen Öffentlichkeit: Idealerweise orientiert sich diese Öffentlichkeit nur am Zwang des Arguments, nicht am Zwang einer außerdiskursiven Autorität. Nach Habermas ist dieses Ideal aber faktisch eingeschränkt, weil in der politischen Moderne Forderung und Realität von Teilhabe am Diskurs oft genug nicht übereinstimmen. In späteren Fassungen übernimmt Habermas diese radikale und reflexive Einschränkung (!) als Kriterium für die Beurteilung von Geltungsansprüchen: Was gilt, entscheidet keine Instanz, keine Autorität, kein metaphysischer Urgrund, sondern allein das Argument. Die Tatsache, dass viele an eine andere Form von Geltung glauben oder ihnen Argumente egal sind, widerlegt dieses Kriterium nicht – sie ist sein Anwendungsfall. Denn all das muss wieder in Form von Behauptungen vorgebracht werden.

Auf die gleiche Weise ist das Postulat eines „herrschaftsfreien Diskurses“ zu verstehen: Es beschreibt keinen faktischen Zustand oder eine moralische Forderung, sondern die Voraussetzung, die Gesprächsteilnehmer machen müssen, damit (!) ein rationales Gespräch entstehen kann. Das hat einfach damit zu tun, dass ein Gespräch, in dem einer für alle anderen das Ergebnis des Gesprächs festlegt, beendet ist, bevor es begonnen hat. Praktisch bedeutet das Postulat vom „herrschaftsfreien Diskurs“ entsprechend gerade nicht, dass irgendwelche Bedingungen durchgesetzt werden müssen, bevor das Gespräch beginnen kann. Sondern es bedeutet, dass das Kriterium, an dem wir eine faire, gleichberechtigte und freie Auseinandersetzung messen können, die Forderung eben dieser Fairness, Gleichberechtigung und Freiheit ist. Und das bedeutet auch, dass dort, wo diese Bedingungen nicht erfüllt sind, sie einklagbar werden. Beide, der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ und der „herrschaftsfreie Diskurs“, sind ethisches Postulat, als solches Kriterium für die Beurteilung eines faktisch ablaufenden Gesprächs – und damit Grundlage einer kritischen Infragestellung ungerechtfertigter Geltungs- oder Herrschaftsansprüche.

Damit kommen wir zum zweiten Aspekt: Vertritt Habermas in seiner Diskursethik den Ausschluss des Unvernünftigen aus dem Vernünftigen? Dazu werfen wir einen Blick in den Band ‚Diskursethik‘ (Studienausgabe Bd. 3):

„Der Diskursethik zufolge darf eine Norm nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen […], daß diese Norm gilt.“ (60)

Das ist erkennbar bei einer dogmatischen Festlegung von Vernunft und Unvernunft nicht der Fall: Die Unvernünftigen wären sicher nicht damit einverstanden, dass die Vernünftigen sie als Unvernünftige aus dem Diskurs ausschließen. Wie wenig diejenigen, die im öffentlichen Diskurs immer wieder als Unvernünftige bezeichnet werden, damit einverstanden sind, kann man an den aktuellen Reaktionen gegen die ‚political correctness‘ und den Selbstviktimisierungskampagnen der AfD ablesen.

„Eine Diskursethik“, schreibt Habermas, „steht und fällt“ auch mit dem Anspruch, „daß […] die Begründung von Normen und Geboten die Durchführung eines realen Diskurses verlangt und letztlich nicht monologisch, in der Form einer im Geiste hypothetisch durchgespielten Argumentation möglich ist.“ (63)

Damit ist auch Feddersens Behauptung (2) als falsch erwiesen. Genauer: Auch sie ist nicht nur falsch, sondern widerspricht diametral dem, was Habermas explizit als These und Argumentation formuliert (vgl. auch DE 16, 19).

Aber Habermas sagte doch im Interview…?

Wie steht es aber mit den Aussagen, die Habermas im Interview trifft? Wie man dort nachlesen kann, vertritt Habermas vor allem die These, dass die Parteien eigene positive Positionen finden sollen, anstatt um rechte Parteien „herumzutanzen“. In diesem Kontext steht auch das von Flaßpöhler herangezogene Zitat: „Sie sollten diese Art von ‚besorgten Bürgern‘ […] kurz und trocken als das abtun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus.“

Da steht „abtun“, nicht „benennen“ oder „den Bürgern als … nahelegen“. Das kann sich also auch auf die Einschätzung der politischen Landschaft durch die Parteien beziehen. Zudem wird das noch einmal abgegrenzt, nämlich von der „Symmetrisierung“, „als müsse man sich, wenn dann doch einmal von ‚Rechtsextremismus‘ die Rede ist, durch den eilfertigen Hinweis auf einen entsprechenden ‚Linksextremismus‘ einer Peinlichkeit entziehen.“ Das gesamte Interview hat als Adressaten politische Entscheidungsträger – Habermas spricht nicht umsonst von politischen Ursachen und möglichen politischen Lösungen. Meines Erachtens (und unter Einbezug der adressatenbezogenen Performanz des Arguments) sagt er also einfach das hier:

> Liebe Parteien, hört auf, eilfertig jeden Rechtsextremismusvorwurf mit einem Linksextremismushinweis zu flankieren und Euch an rechten Parteien zu orientieren. Findet lieber ein eigenes, überzeugendes Programm, das zudem die Probleme zu vermeiden versucht, die ich oben genannt habe: stellt die politischen Differenzen wieder her, nehmt die Rechten nicht zu ernst und verschafft ihnen nicht durch Empörung oder Anbiederung Aufmerksamkeit, übt Euch in kluger Verachtung, findet eine überzeugende Antwort auf den neoliberalen Kapitalismus. <

Das ist auch deswegen plausibel, weil Habermas Flaßpöhlers Zuschreibung, auch hier, gleich in der nächsten Antwort, diametral widerspricht: „[F]ür ein demokratisches Gemeinwesen ist es besser, wenn fragwürdige politische Mentalitäten nicht auf Dauer unter den Teppich gekehrt werden.“ Um dann im nächsten Schritt sogar zu begründen, warum im Osten die Bereitschaft zu einer konsensuellen Debatte eher gering ist: Weil „die Bevölkerung der ehemaligen DDR nach 1990 gar nicht erst in eine Situation [kam], in der sie eigene Fehler hätte begehen können und aus der NS-Vergangenheit hätte lernen müssen.“

All das ist vom Text her deutlich. Und dann liest man noch Bewertungen wie „hinterwäldlerisc[h]“ und versteht, dass sich hier der politische Kommentator Habermas äußert, nicht der Philosoph im Rahmen seiner Konzepte. Die gesamte Argumentation ab der Thematisierung der Ost-West-Differenz ist eine rhetorisch-dialektische Erörterung im Modus ‚einerseits / andererseits‘, also ein abwägendes Urteilen, kein vom Thron der Theorie herab gesprochenes Verdikt.

IV. Zorn – ein Habermasianer?

Aber nein. Ich habe erhebliche Probleme mit Habermas‘ Diskursethik. Mir geht es hier nicht um die Verteidigung eines Schulphilosophen, sondern um die Kritik an einer verkürzten doxographischen Sichtweise. Flaßpöhlers und Feddersens Artikel plädieren beide für eine diskursive Auseinandersetzung – ihre Argumentation hat also den Pappkameraden-Habermas, den sie aus einem kontextbefreiten und situativ gesprochenen Interview extrahieren und zur theoretischen Position aufblasen, gar nicht nötig.

Anstatt sich gegen Habermas hin zu Arendt abzustoßen oder Habermas zum Fürsprecher linker Ausschlussforderungen zu erklären, könnte es sich anbieten, ihn im Sinne der eigenen These stark zu machen. Er mag dezidiert linke, auch antifaschistische Positionen vertreten. Aber sein Konzept deliberativer Demokratie setzt gerade darauf, dass jeder im Diskurs implizite ungerechtfertigte Herrschaftsansprüche sichtbar machen kann.

Seine Version der kritischen Theorie basiert insgesamt darauf: Durch kritische, nachvollziehbare, argumentierende Explikation diejenigen Bedingungen sichtbar zu machen, die als Aporien, Widersprüche, Dogmatismen (in seinen Augen) als Rudimente eine überkommene, eigentlich überwundene, in jedem Fall zu überwindende Form menschlicher Gesellschaft ausmachen. Mir ist klar, dass Habermas‘ Diskursethik als Argument genommen Probleme aufweist. Hier geht es nicht darum, ihre Richtigkeit zu verteidigen, sondern sie als solche gegen verzerrte Darstellungen allererst wiederherzustellen. Vor der Kritik steht das Verstehen – wer nicht versteht, dessen Kritik kann nicht überzeugen.

Entsprechend haben beide, Flaßpöhler und Feddersen, gleichsam Schlussworte verfasst, die man jederzeit mit einem Habermastext rechtfertigen könnte. Sie zielen präzise auf das, was Diskursethik fordert: Die Auseinandersetzung, um gemeinsame Normen erst zu finden und sie dort, wo sie ungerechtfertigt einfach hingestellt werden, kritisch zu hinterfragen. Svenja Flaßpöhler formuliert es so: „Was als vernünftig gilt und was nicht, wäre dann nicht vorentschieden, sondern selbst Gegenstand des Streits.“

Und Jan Feddersen schreibt: „[D]as Denken in Wertegemeinschaften und Verschnupftheitsblasen ist aus der Zeit, nur der starke Rahmen grundgesetzlich geschützter Meinungsfreiheit kann zählen – das wird dann allerdings für manche Linke ungemütlicher. Die Mentalitäten der wohlfeilen Empörung, der Beleidigthaftigkeit fundamentaler Sorte müssen in die politischen Kinderzimmer zurückgebracht werden. Wer um Pluralität, um Diversität kämpfen will, ihren Erhalt und ihren Ausbau, kommt am Streit mit jenen, die politisch ganz anderes wollen, nicht vorbei.“

Dem kann man, mit Habermas, nur zustimmen.

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Ein Kommentar

  1. „Ich habe erhebliche Probleme mit Habermas‘ Diskursethik“ – Haben Sie das vielleicht schon an anderer Stelle näher ausgeführt? Das zu lesen wäre (wahrscheinlich nicht nur für mich) hoch interessant!

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