Dialektik – Ein Wegweiser

Eines vorweg: Blogbeiträge, zumal über philosophisch hochumstrittene Begriffe, können in solchen Dingen nie Vollständigkeit beanspruchen. Sie geben Hinweise zum Aufsuchen, zum Weiterdenken, zum Machen erster Schritte und zur Unterscheidung verschiedener Verwendungsweisen philosophischer Begriffe. Die Einteilung, die hier vorgenommen wird, orientiert sich an mehr oder weniger paradigmatischen Begriffsverwendungen, die für die in der Tradition nachfolgenden Philosophen auf die eine oder andere Weise bedeutsam geworden sind. Es sind Idealtypen, denen jeweils ganz unterschiedliche Verwirklichungen oder auch Kombinationen der einzelnen Verwendungsweisen entsprechen. Schließlich wäre es höchst undialektisch, in Sachen „Dialektik“ Vollständigkeit zu beanspruchen. Warum, das soll in den folgenden Absätzen klar werden.

Begriffe beziehen sich auf das, worauf man gemeinsam die Aufmerksamkeit richten kann. Noch bevor es den Begriff „Dialektik“ – oder gar eine Methode dieser Bezeichnung – gab, gab es längst das, was Begriff und Methode bezeichnen: Aufmerksamkeit auf das Gemeinsame in einem Dialog und Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Inhalt, d. h. dem, was man sagt, und Operation, d. h. dem, wie oder wodurch man etwas sagt, in der Rede. Das erklärt auch die enge Verwandtschaft von Rhetorik und Dialektik, die im Verlauf der Geschichte immer wieder für Verwirrungen sorgt: Beide Weisen der Redebeherrschung basieren auf den gleichen Formen von Aufmerksamkeit.

Dasselbe gilt übrigens vom Mythos – in dem es immer auch um die Gemeinsamkeit von Gegenwart und erzählter Zeit geht – und den sich entwickelnden Gattungen der Dichtung: dem Epos der herumreisenden Hofsänger, der Lyrik der Festspieldichter und dem Drama der Tragödien- und Komödiendichter. Sie alle wären ohne diese beiden Aufmerksamkeiten undenkbar. Das ist der Grund, warum man dialektische Verhältnisse nicht nur in philosophischen Diskussionen begrifflicher Strukturen, sondern immer wieder auch in rhetorischen Strategien und literarischen Stilmitteln und Erzählformen wiederfinden kann.

I. Der aufmerksame Geist und das Gemeinsame

Noch ohne sie begrifflich zu fassen, verbinden sich die beiden Aufmerksamkeiten – für das Gemeinsame im Dialog und für das Verhältnis von Inhalt und Operation in der Rede – in den frühesten uns verfügbaren philosophischen Texten mit Maßstäben, die direkt mit diesen Aufmerksamkeitsformen zu tun haben: Wo der Inhalt der Operation widerspricht, kann das, was der Inhalt behauptet, nicht überzeugen. Wer behauptet „Ich sage gerade nichts“, tut es doch – und formuliert einen Widerspruch. Und wer nach dem Verhältnis von Inhalt und Operation in der Rede fragen will, für den muss beides fragwürdig sein können. Wer die Operation, die Voraussetzung, die Bedingung aber als bereits gegeben voraussetzt, dem wird diese Infragestellung unmöglich.

So nutzen schon Philosophen, die noch keinen Namen für sie haben, diese beiden Prinzipien: das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs und das Prinzip der ausgeschlossenen dogmatischen Setzung. Nicht die Unmöglichkeit, sondern die Möglichkeit von Widerspruch und Setzung macht diese problematisch und die beiden Prinzipien daher notwendig, um überzeugende Rede von einer Rede zu unterscheiden, die nicht überzeugen kann.

Im Satz des Anaximander, dem frühesten philosophischen Fragment, das uns bekannt ist, treten die Dinge in die Existenz, nachdem andere für sie vergangen sind. Die Dinge müssen vergehen, damit andere an ihrer Stelle werden können – sie können nicht zugleich am gleichen Ort sein und nicht sein.

Im Lehrgedicht des Parmenides wird auf bereits komplexe Weise unterschieden zwischen dem „Denken“ und dem „Sein“, der „Wahrheit“ und dem „Schein“, dem also, was „ohne Wahrheit“ ist. Etwas kann nicht zugleich wahr und nicht wahr sein – und das Kriterium dafür, wann etwas wahr oder nicht wahr ist, liegt im kritischen Bedenken des Arguments, das die Göttin dem Leser vorlegt: „[M]it dem Denken bring zur Entscheidung die streitreiche Prüfung, die von mir genannt wurde.“ Beide, Anaximander und Parmenides, verwirklichen so bereits Varianten dessen, was die nachfolgende Philosophie „Dialektik“ nennen wird.

Doch es ist der ionische Zeitgenosse des Parmenides, Heraklit aus Ephesos, der die Kunst der beiden Aufmerksamkeiten im Maßstab des zu vermeidenden Widerspruchs in seinem Text miteinander verbindet. Die kurzen Passagen, die von diesem Buch übriggeblieben sind, galten schon in der Antike als dunkel und verworren. Das liegt aber vor allem daran, dass Heraklit ganz explizit an scheinbar Gegensätzlichem im Gleichen („gegenstrebige Fügung wie die von Bogen und Leier“) und am Zusammenhang von Inhalt und Operation interessiert ist. Er beklagt dabei die Unkenntnis seiner Leser: Sie „gleichen … Unerprobten, so oft sie sich erproben an solchen Worten und Werken, wie ich sie erörtere, nach seiner Natur ein jegliches zerlegend und erklärend, wie es sich verhält.“

Was „Worte und Werke“ bedeuten können, zeigt ein Fragment, in dem Heraklit Inhalt und Operation seiner Rede auf einzigartige Weise verknüpft: „Es muß so sein, daß die, die mit aufmerksamem Geiste reden, den Nachdruck legen auf das Gemeinsame aller Dinge, wie auf das Gesetz einer Stadt, und noch viel stärker…“ Für den aufmerksamen Geist steht hier „xyn nooi“, für das Gemeinsame „xynoi“ – beide werden auf gleiche Weise ausgesprochen, aber unterschiedlich geschrieben. Wer hier das Gemeinsame entdecken will, braucht einen aufmerksamen Geist, der neben der Schrift auch das Gesprochene bedenkt.

II. Die „Dialektik“

Die Texte von Anaximander, Parmenides und Heraklit bilden den Hintergrund für das, was „Dialektik“ genannt wird. Zu dieser vorsokratischen Diskussion gehören auch Philosophen wie Empedokles, Anaxagoras und Demokrit, die sich mit dem von Parmenides und Heraklit gestellten Denkproblem der Verbindung von „Sein“ und „Werden“ auseinandersetzen. Aber erst Platon, der Schüler des Sokrates, wird einen Begriff für diese philosophischen Formen von Aufmerksamkeit finden – und das nicht zufällig am deutlichsten in dem Dialog, in dem er die Rhetorik der Sophisten von der prinzipiengeleiteten Rede der Philosophen unterscheidet. Doch zugleich mit dieser Begriffsprägung nimmt der Begriff „Dialektik“ verschiedene Wendungen, die man wie folgt idealtypisch voneinander unterscheiden kann:

„Dialektik“, von altgriechisch „episteme dialektike“, ist wörtlich übersetzt die Wissenschaft vom Gespräch oder von der Unterredung. Platon bezeichnet damit im Dialog Sophistes vor allem eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit auf die im Gespräch gebrauchten Begriffe: wie sie sich zueinander verhalten, welche Gemeinsamkeiten sie besitzen, worin sie sich unterscheiden, was sie voraussetzen müssen usw. Die vier Dialektikbestimmungen sind geradezu zitierfähig formuliert (sie finden sich im Sophistes in 253b-c, 253d, 253d-e und 254b-c). Im platonischen Verständnis bedeutet „Dialektik“ also eine bestimmte Aufmerksamkeit darauf, was man in einem Gespräch als Argument vorbringt und vor allem darauf, womit oder wodurch man es tut – also: welche Begriffe, Unterscheidungen, Voraussetzungen usw. man in einem Argument gebraucht bzw. macht. Das könnte man (1) als den platonischen bzw. den auf den Logos bezogenen oder logischen Begriff von Dialektik bezeichnen.

Bereits bei Aristoteles, dem Schüler Platons, bezeichnet der Begriff „Dialektik“ etwas anderes, nämlich Argumente, die bestimmte allgemein anerkannte („wahrscheinliche“) Annahmen machen. Die Dialektik wird damit zugleich zu einer Technik oder Methode, eine Aussage und ihr Gegenteil gleich gut rechtfertigen zu können – weswegen Aristoteles sie in seiner Topik und seinen Sophistischen Widerlegungen als (gute) rhetorische Fechtkunst etabliert. Aristoteles grenzt „Dialektik“ als inhaltlich voraussetzungsvolle Argumentation damit auch von der von ihm entwickelten formalen Logik ab, der er wegen ihres formalen Schließens den Vorrang gibt. Formale Logik und Dialektik treten bereits hier in eine kaum vermittelbare Differenz. Leider geht mit dieser aristotelischen Auffassung von „Dialektik“ das Moment der Aufmerksamkeit auf das Womit und Wodurch verloren. Das etabliert (2) einen rhetorischen Begriff von Dialektik.

Zugleich gebraucht Aristoteles selbst (z. B. in der Metaphysik) immer noch dialektische Argumente im platonischen Sinn – nur dass er sie jetzt für ontologische Aussagen hält oder in Beweisverfahren anwendet, aber methodisch nicht weiter reflektiert. Das wird (3) zu einem ontologischen Gebrauch bzw. Begriff von Dialektik, der eng verbunden ist mit Begriffsverhältnissen wie „hyle / eidos“ bzw. „Materie / Form“, „energeia / dynamis“ bzw. „Verwirklichung / Möglichkeit“, sowie verschiedenen Überlegungen zur Rückbezüglichkeit des Denkens.

Besonders im kritischen Anschluss an Sokrates – bei den Megarikern und später den Stoikern, sowie bei den späteren akademischen Skeptikern – etabliert sich jenseits von Platon und Aristoteles ein weiterer Begriff von „Dialektik“: Er bezeichnet logische Fangschlüsse und Paradoxien, die insbesondere von den Megarikern genutzt wurden, um ihre Gesprächspartner zu überrumpeln. Diese Tradition reicht von Parmenides‘ Schüler Zenon von Elea (das ist der mit den vielen Paradoxien) über die Sophisten bis in die sich dann etablierende Rhetorik. Das wäre (4) ein eristischer Begriff von Dialektik.

In der Geschichte der Philosophie werden entweder der logische und insbesondere der ontologische oder aber der eristische und der rhetorische Begriff von „Dialektik“ immer wieder aufgegriffen. Dazu kann man einige Beispiele nennen: Die Mittelplatoniker und die Neuplatoniker, darunter vor allem Plotin und Proklos, nutzen logische und ontologische dialektische Argumentationen zur Begründung von Systemen, die Aristoteles und Platon miteinander vereinigen sollen. Die akademischen Skeptiker nutzen vor allem die eristische und rhetorische Dialektik, um den Dogmatismus der Stoiker und älteren Akademiker zu kritisieren. Dialektisch argumentieren Cicero und Seneca ebenso wie Augustinus und Boethius.

An die Neuplatoniker knüpft insbesondere die Scholastik an, während die eristische Dialektik ein Schattendasein in der kaum entwickelten Rhetorik führt. Insbesondere das ontologische und theologische Interesse der Scholastik wird durch Dialektik geprägt, wobei der Begriff selbst kaum einmal diesen tatsächlichen Gebrauch bezeichnet – übernommen wird hier vor allem Aristoteles‘ rhetorischer Begriff. Als solcher – im Verein mit Logik – ist Dialektik auch Teil des Triviums der Artes Liberales.

In der Frühen Neuzeit wird die Dialektik vor allem in ihrer platonischen, rhetorischen und eristischen Gestalt gemeinsam mit den platonischen Dialogen von den Philosophen wiederentdeckt. Schon vorher findet man z. B. bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart – durch Proklos, Augustinus und Boethius, sowie Johannes Scotus Eriugena, Pseudo-Dionysios Areopagita und einige arabische Schriften vermittelte – platonische Argumentationsfiguren. Nikolaus Cusanus kann durch seine diplomatischen Reisen und seine Verbindungen zu den Platonikern aus Byzanz (Plethon, Bessarion) auf ergänzende Texte zurückgreifen.

Nachdem Marsilio Ficino den gesamten Platon und Plotin in lateinischer Übersetzung verfügbar gemacht hat, finden sich platonisch-dialektische Argumentationsfiguren von Pico della Mirandola bis Henry More und Ralph Cudworth sowie in den klandestinen Diskussionen der Frühaufklärung. Zentrale dialektische Gedankenfiguren finden sich in der Hermetik der Spätantike, der Kabbala des Spätmittelalters, bei Leone Ebreo und Giordano Bruno, bei Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz, bei Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder.

Im Sinne der eristischen und rhetorischen Dialektik gebraucht Immanuel Kant den Begriff, der die Untersuchung der Verwirrungen bezeichnet, in die die Vernunft mit sich selbst gerät. Gleichzeitig bleibt bei ihm der logische Sinn implizit erhalten, sofern Kant die sich ergebenden Fehlschlüsse auch durch dialektische Argumente auflöst. Den rhetorischen Sinn greift auch Johann Gottlieb Fichte auf, um seine Methode als Vereinigung der Gegensätze zu bezeichnen – und dabei ganz im Sinne der von Platon geprägten und insbesondere von Plotin weiterentwickelten logischen Dialektik zu verfahren. Explizit als Methode wiederaufgegriffen wird die Dialektik wieder von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der allerdings logischen und ontologischen Begriff miteinander kombiniert. Hegel führt sozusagen eine platonische Begriffsdialektik im aristotelischen Kleid der Ontologie wieder ein und erneuert damit die antike Aufgabenstellung, das gemeinsame Prinzip von Denken und Sein zu explizieren.

Um seinen Lesern dieses neue (alte) Verständnis von Dialektik näher zu bringen, entwickelt er das Konzept des „spekulativen Satzes“, also einer Satzkonstruktion, in der der jeweilige Folgesatz den Vorgängersatz operational oder inhaltlich aufmerksam expliziert und sich dadurch in einen Kontrast zu ihm stellt. Weil Hegel seine dialektische Methode aber einem Publikum vorführt, das ontologische Systeme gewohnt ist, greift er zur Erklärung seines Vorgehens den rhetorischen bzw. eristischen Sinn auf: Dialektik sei Setzung und Entgegensetzung, Aussage und widersprechende Aussage. In Wirklichkeit handelt es sich aber nicht um Widersprüche, sondern nur um andere Hinsichten – was allerdings für allerlei Verwirrung bei Hegels Nachfolgern sorgt. Das etabliert (5) den spezifisch hegelschen Begriff von Dialektik.

Dieses eigentlich logische (d. h. sich im Begriff vollziehende) Wechselspiel wird von Hegel auch als Erklärung für historische und natürliche Phänomene eingesetzt – was die Möglichkeit eröffnet, Dialektik wieder ontologisch zu wenden. Während Hegel, trotz seiner Verknüpfung von logischem und ontologischem Sinn, die Dialektik vor allem logisch versteht, wendet sie der spätere Friedrich Wilhelm Joseph Schelling eher im ontologischen Sinn an (z. B. in den Weltalter-Fragmenten). Der historische und aber insbesondere der dialektische (sic!) Materialismus (Karl Marx, Friedrich Engels et al.) nutzen eine „vom Kopf auf die Füße“ gestellte Dialektik, um eine holistische ontologisch-dialektische Gesetzmäßigkeit zu behaupten. Das wäre dann der (6) materialistische Begriff von Dialektik.

Der eristische Begriff wird noch einmal neu aufgegriffen von Arthur Schopenhauer, der – Aristoteles‘ Topik und Sophistischen Widerlegungen folgend – eine Eristik entwickelt, die auch als Dialektik gilt. Sie vereint eristische und rhetorische Elemente. Die platonische bzw. logische Dialektik erfährt ebenfalls weitere Ausformungen, teilweise unter einem ähnlichen Titel (z. B. in Theodor W. Adornos „negativer Dialektik“), teilweise als Strukturexplikation (z. B. bei Martin Heidegger oder Jacques Derrida), teils in kritischer Anverwandlung (z. B. bei Sören Kierkegaard, Henri Bergson, später bei Gilles Deleuze), teils in durchgängiger impliziter Verwendung trotz offener, sogar polemischer Ablehnung (z. B. bei Friedrich Nietzsche).

Wir haben also, im Laufe der Zeit, mindestens (!) folgende sechs Idealtypen von „Dialektik“:

(1) den platonischen bzw. logischen Begriff
(2) den aristotelischen rhetorischen Begriff und
(3) den aristotelischen ontologischen Gebrauch (!) bzw. Begriff
(4) den eristischen Begriff
(5) den hegelschen Begriff und schließlich
(6) den materialistischen Begriff von Dialektik

Als die beiden großen Dialektiker gelten vor allem Platon und Hegel – meint man es sophistisch oder eristisch: die Megariker und Skeptiker. Als logischer Dialektiker würde ich natürlich sagen: Der ontologische, der hegelsche und der materialistische Begriff leiten sich vom logischen Begriff ab, während der eristische Begriff fehlschlüssige logische Dialektik zusammenfasst und dann zu einer rhetorischen Methode wird. Der rhetorische Begriff betont den Aspekt des Gesprächs, in dem es um die Wahrnahme des jeweils vorgebrachten Arguments und seiner Widerlegung geht.

III. Warum Dialektik heute?

Zu Beginn wurde es bereits angesprochen: Der Begriff der „Dialektik“ gehört zu den philosophisch hochumstrittenen Begriffen. Das ist auch deswegen so, weil seit dem Zusammenbruch der Führungsrolle der Klassischen Deutschen Philosophie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts so etwas wie „Dialektik“ unter Generalverdacht steht. Wo philosophische Positionen den Ton angeben, die sich an naturwissenschaftlicher Forschung orientieren, wird „Dialektik“ gleichsetzt mit interpretativer Willkür, Begriffsspielereien, Obskurantismus und Spiegelfechtereien. Wer sich auf Dialektik beruft, sieht sich sofort damit konfrontiert, rhetorischer Fechtmeister oder eristischer Unruhestifter zu sein.

Dem steht der überwältigende Befund gegenüber, dass bis ins 19. Jahrhundert – und in manchen Bereichen der Philosophie auch darüber hinaus und bis in unsere Gegenwart – dialektisches Denken und dialektische Argumentationsfiguren die Philosophie beherrschen. Auch die wissenschaftlichen Ansätze, auf die sich moderne philosophische Ansätze berufen, um sich von den vermeintlich „metaphysischen“ dialektischen Positionen zu distanzieren, wären ohne dialektisches Philosophieren nicht möglich. Wissenschaft basiert durchgängig auf Prinzipien, die dabei helfen, Widersprüche zwischen Theorie und Experiment und Widersprüche in Theorien als Problemstellung zu begreifen.

Zugleich impliziert dialektisches Denken, als operationale Aufmerksamkeit, eine radikal kritische Haltung gegenüber Voraussetzungen. Wer Dialektik nicht nur rhetorisch oder eristisch instrumentalisiert, sondern ihre logischen und ontologischen Problemstellungen ernst nimmt, sieht sich so der wachsenden Menge derer gegenüber, die bestimmte Rahmenbedingungen des Denkens schon akzeptiert haben. Insofern besitzt dialektisches Denken auch eine ideologiekritische Komponente: Es hilft dabei, Widersprüche im Argument mit Widersprüchen in der Realität zu verknüpfen. Nicht umsonst besteht Marx‘ Argument gegen den Kapitalismus vor allem darin, in einer Strukturanalyse inhärente Widersprüche aufzuweisen, die jedoch sehr reale Konsequenzen haben.

Wer dialektisch denken kann, dem steht die Tür zu zweieinhalbtausend Jahren philosophischer Tradition offen. Er muss sich dafür aber von dem Vorurteil verabschieden, dort könne man nur noch historisch oder gar nur literarisch bedeutsame Gedanken vorfinden. Dialektisches Denken ist außerdem problemgeleitetes Denken. Deswegen gerät es überall dort in einen Konflikt, wo es mit Weltanschauungen, Ideologien, Überzeugungen oder Fundamentalismen aller Art konfrontiert ist.

Dialektisches Denken ist anstrengend und voraussetzungsvoll, außerdem ungemein vielfältig. Zu jedem der genannten sechs Idealtypen gibt es mindestens eine Schule, die ihren Begriff von „Dialektik“ für den eigentlichen Maßstab hält. Diese Diskussion dauert an, weswegen man sich nicht vorschnell auf eine Seite schlagen sollte. Da vornehmlich die Leser der Klassischen Deutschen Philosophie und der Texte von Marx und den späteren Marxisten in der Dialektik ihre Position finden, sind viele Darstellungen von Dialektik auch von diesen Perspektiven geprägt. Davon sollte man sich nicht täuschen lassen.

An den Universitäten wird dialektisches Denken heute nur noch selten gelehrt. Das hat auch mit den Strukturveränderungen an der Universität zu tun, die den ergebnisorientierten MINT-Fächern den Vorzug gibt. Während das dialektisch geprägte Denken Anfang der 80er an der Universität unterging, haben zudem andere Fächer dialektische Standpunkte für sich entdeckt und sie vertreten. Insbesondere in den Literaturwissenschaften, Medienwissenschaften und Sozialwissenschaften haben dialektische Konzepte „überwintert“ und werden oft eifersüchtig als ureigenste Denkformen der jeweiligen Disziplin gehütet.

Wer „Dialektik“ lernen will, kommt also um die Lektüre der Klassiker nicht herum. Was „Dialektik“ ist, lässt sich bei Platon und Plotin, Hölderlin und Hegel, Schelling und Marx besser lernen als in einem Methodenseminar. Doch die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Inhalt und Operation in der Lektüre muss dann stets begleitet werden von der Aufmerksamkeit auf das Gemeinsame im Dialog. Das ist, zugegeben, ein durchaus platonisches Verständnis von „Dialektik“. Doch selbst wer auf den ontologischen, den rhetorischen, den hegelschen, den materialistischen Sinn ausgreift, wird hier Grundlegendes lernen können.

Am Ende ist „Dialektik“ eben das, was man daraus macht – und der wird sich als dialektisch erweisen, der sich nicht ein für alle Mal mit einer alleingültig feststehenden Definition zufriedengibt. Denn „Dialektik“ bedeutet, immer auch die andere Seite zu sehen. Zumindest wäre das eine Einsicht, die einigermaßen schwer zu leugnen ist.

(Wiederveröffentlichung eines Gastbeitrags von 2019)

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