operationale Aufmerksamkeit

Einführung in die Lektüre philosophischer Texte – Teil I

Die eigene Einstellung zu einem philosophischen Text, diese machtvolle Voraussetzung des eigenen Verstehens, Nichtverstehens, Missverstehens, Neuverstehens usw., gehört mit zu den am meisten ignorierten und vernachlässigten operativen Faktoren philosophischer Lektüre. – Damit ist gerade nicht die hermeneutische Behauptung der ‚Notwendigkeit von Vorurteilen als Voraussetzungen des Verstehens‘ in Frage gestellt, sondern deren Verkürzungen: (1) die Behauptung, zu wissen, dass jeder Leser bezüglich des Textes Vorurteile hat, hieße, bestimmte Vorurteile damit schon als unabdingbar gerechtfertigt zu haben, was voraussetzt (2) die Behauptung, zu wissen, dass Vorurteile notwendig sind, impliziere bereits, zu wissen, um welche es sich dabei handelt; schließlich (3) die Behauptung, eine Voraussetzung im Sinne des Verstehens sei gleichzusetzen mit einer Voraussetzung im Sinne des Geltens. – Das, von dem ich explizit weiß, dass ich es für mein Verstehen des Textes vorausgesetzt habe, kann ich aber genau deswegen methodisch behandeln, d.h. auch: verändern oder als bloße Annahme der Bedeutung kennzeichnen. So gerate ich nicht in die Gefahr, mein eigenes Missverständnis dem Text als Inkonsistenz zu unterstellen.

Philosophische Reflexionen, wie sie in Texten vorliegen, sind keine ontologischen Dinge, keine Behälter eines im Vorhinein endgültig festgelegten inhaltlichen Sinnes, sondern sie erschließen sich (!) dem Leser immer gerade so weit, wie dieser bereit ist, sich auf sie, ihre Gedankengänge und ihre Faktur (ihre sprachliche und logische Machart, Gegebenheit), ihre Argumente und ihre impliziten Operationen, einzulassen und sich in ihnen zu engagieren. Engagement bedeutet so nicht: Den Text als unverrückbare Wahrheit oder als zu kritisierende Perspektive auf eine wie auch immer schon vorausgesetzte Welt zu behandeln, sondern vielmehr: im Nachvollzug seines textlich positiv gegebenen Verlaufs auf diesen Nachvollzug zu achten und so im Nachdenken des Textes und über den Text auch die Bewegung des eigenen Denkens zu erfahren. Es bedeutet schließlich, in dieser Erfahrung – und nicht in einer irgendwie erreichbaren unmittelbaren Wahrheit – die eigentlich philosophische Erfahrung zu sehen und diese Lehren über das fremde und das eigene Denken als einen wertvollen Schatz zu betrachten, der uns zeigt, dass Denken gelingen kann – dass dies aber eher selten ist. Das Wie des Gelingens und des Nichtgelingens des Denkens, das Wissen über die Versuche, das Denken zu regieren und dieser Regierung zu widerstehen, ist niedergelegt in 2500 Jahren philosophischen Denkens. – Es ist eine Karte vergangener Wegstrecken, die dazu einlädt, diese Wegstrecken (immer) wieder zu beschreiten, sich zu verirren, wieder zurechtzufinden und in alldem sich langsam, aber unaufhörlich, über die Macht des (eigenen und nicht-eigenen) Denkens klar zu werden.