Philosophen, Historiker und Philosophiegeschichtsschreibung

Der Philosophiehistoriker Martin Mulsow hat im Jahr 2002 seine Habilitation über die „Radikale Frühaufklärung“ vorgelegt. Mittlerweile gehört der Begriff fest zur ernstzunehmenden philosophiehistorischen Forschung dazu: Er plädiert dafür, die Aufklärung nicht von ihren späten oder prominenten Exponenten her zu verstehen, sondern aus der Perspektive der Diskussionen, die Denker und Gelehrte in ganz Europa unter widrigen Bedingungen geführt haben.

Wo Staat und Kirche die Öffentlichkeit kontrollieren und wo den Vertretern unorthodoxer Perspektiven Ächtung, Folter und Tod droht, muss sich die Gelehrtenrepublik mit den Bedingungen arrangieren. Das bedeutet insbesondere für das radikale Denken: Veröffentlichungen nur unter Pseudonym oder aber getarnt als historisch-kritische Untersuchung, die ihre Übertragung auf die Gegenwart dem Leser überlässt. Das bedeutet die Herausbildung von gelehrten Gemeinschaften wie der Royal Society, deren Mitglieder dann in Privatissima und verschwiegenen Zirkeln Briefwechsel von befreundeten Gelehrten oder die neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen diskutieren. Das bedeutet, dass in den Milieus der offiziellen Wissensproduktion, an den Universitäten und Priesterseminaren, in kirchlichen Räten und den Privatbibliotheken von Pastoren und Professoren, der Naturalienhandel mit klandestinen Schriften blüht, ein Tauschgeschäft, in dem jüdische Polemiken gegen das Christentum, Satiren und Spottschriften, die berühmt-berüchtigte atheistische Manuskripte imitieren und ernstgemeinte sozinianische, arminianische oder deistische Provokationen den Besitzer wechselten oder befreundeten Gelehrten zur Abschrift überlassen wurden. Dabei war dieser klandestine Gelehrtenaustausch auf Verschwiegenheit und Verschleierungsstrategien angewiesen, was natürlich die Rezeption entsprechend erschwerte.

Seit Jonathan Israels „Radical Enlightenment“ (2001) und eben Mulsows Buch zur radikalen Frühaufklärung muss man insbesondere in der Philosophiegeschichte umdenken, die an den Universitäten zum Großteil in der Form von Doxographie gelehrt wird, also in der Form von Meinungen und Ideen von „großen Philosophen“, die von den Texten wie dem historischen Kontext gleich weit entfernt ist. Dabei können, wie Kurt Flasch in „Philosophie hat Geschichte“ feststellt, nur strenge textimmanente Lektüre und gewissenhafte Erforschung des historischen Kontextes gemeinsam, in jeweils unterschiedlichen Perspektiven, den Titel einer „philosophischen Forschung“ mit Recht beanspruchen. Der, in diesem Sinne, radikale Aufklärer Flasch gehört dabei zu den prominenten Figuren einer insgesamt eher marginalisierten Form von Auseinandersetzung mit der Tradition – sowohl textimmanente als auch im strengeren Sinne historische Forschung sind der akademischen Philosophie zwar Preise und Ehrungen für das Lebenswerk wert, in Lehre und Forschung aber verpönt oder schlicht unbekannt.

I. Der Forschungsdiskurs: Wunsch und Wirklichkeit

Dass gute Forschung nur perspektivisch, in der Zusammenschau und kritischen Diskussion von Perspektiven zu haben ist, wird von Philosophiehistorikern wie Mulsow und Flasch vorausgesetzt, implizit und explizit. Die Mode in der Philosophie wie in den Geschichtswissenschaften, sich mit spezialistischer Forschung akademisch hochzuarbeiten, um sich dann irgendwann mit einer Epochendarstellung aus einer Hand einen Namen zu machen, hat aber in beiden Disziplinen dazu geführt, dass diese Voraussetzung von Forschung – unvermeidbare Perspektivität, partikuläre und aspektive Darstellungen, ergänzende und erweiternde Argumentationen – im wissenschaftlichen Diskurs selbst ins Hintertreffen gerät.

Stattdessen wird in nahezu jeder akademischen Diskussion von einem primitiven Solipsismus ausgegangen, d. h. den wissenschaftlich Beitragenden wird unterstellt, ihre und nur ihre Perspektive nicht nur für von Vornherein wahr, sondern auch für abgeschlossen und vollständig zu halten. Der rhetorische Grund dafür liegt auf der Hand: Eine solche verstiegene und anmaßende Position ist wesentlich leichter anzugreifen als eine, die ihre Perspektivität mitreflektiert. Der solipsistische Imperativ führt so nicht nur zu den bekannten Gockelpositionen der „Großkopferten“, also der Meisterdenker und Torwächter der eigenen Gelehrsamkeit, sondern bei den so Untergebenen und Unterlegenen zur provokativen Nachahmung dieses Gestus der Allwissenheit, die bei Bedarf als Zuspitzung zugegeben wird, die aber insgesamt einen polemischen und relativistischen Diskussionsstil etabliert und normalisiert.

Für marginale Positionen innerhalb der Disziplinen bleibt nur das innere und äußere Exil, d. h. mit Glück der Lehrstuhl ohne Ausstattung, private oder kirchliche Institutionen, stoisches Veröffentlichen von Büchern in Auflagen von 200 und von Aufsätzen in Zeitschriften mit 100 Lesern. Es ist wie in der von Lyotard im „Widerstreit“ geschilderten Anekdote, in der ein Verleger ein Manuskript deswegen ablehnt, weil es auch von allen anderen abgelehnt wurde. Wer über die Marktförmigkeit der Wissenschaft klagt, darf nicht nur die Bologna-Reform ins Auge fassen, er muss sich auch mit der faktischen Schlamperei im wissenschaftlichen Diskurs auseinandersetzen, mit der unfairen und machtgesättigten Rhetorik in akademischen Kontexten und den hochschulpolitischen Grabenkämpfen, die das Feudalsystem Universität zu einer Lotterie in Sachen Zukunftsplanung werden lässt.

Diese Rhetorik ist mit Händen zu greifen. Sie besteht einerseits in der endlosen Wiederholung von Klischees, die in der Akademie nicht weniger als in der Öffentlichkeit – und das meint: das Feuilleton, das Kulturradio, die intellektuellen Informationsformate – zuverlässig dafür sorgen, dass im Mittelalter Hexen verbrannt und Wissenschaft pauschal verteufelt wird und dass sich das alles erst mit der Aufklärung, genauer der Französischen Revolution geändert habe. Nach diesen Klischees haben die alten Griechen an merkwürdige Dinge geglaubt, wie den Ideenhimmel oder dass alles in Wirklichkeit aus Feuer oder Wasser besteht, betreiben Philosophen „Spökenkiekerei“ (R. D. Precht), also fantasievolle, aber unwissenschaftliche Spekulation, sind René Descartes und John Locke die Begründer des modernen Denkens und Nietzsche und Heidegger raunende Dichter, die sinistre Absichten durch unverständliches Geschwurbel verschleiern.

Andererseits wird das, was nicht ins Klischee passt, passend gemacht. Wer bequemerweise die These von einer Unzahl an philosophischen Weltanschauungen vertritt, in denen alle über das Gleiche sprechen und alle um dieselbe Wahrheit ringen – bequem, weil sich diese Landschaft leicht als absurd darstellen lässt –, wird auch jede gegenwärtige philosophische These so verstehen. Wer davon ausgeht, als Historiker einen historischen Kontext möglichst umfassend zu beschreiben, wird auch einem Philosophiehistoriker, der ja mit Ideen und weniger mit Tatsachen oder Ereignissen befasst ist, den gleichen Anspruch unterstellen. Und wer sich in der Forschungslandschaft eingerichtet hat, kann auf den Trichter kommen, Bewerber wie Kollegen genealogisch nach den Autoren zu beurteilen, die sie behandeln. Sie erscheinen dann, je nach Gusto, als irrlichternde Konkurrenten (wenn sie nicht übereinstimmen), als kluge Forscher (wenn sie es tun), als abhängig von fragwürdigen Autoritäten (wenn sie Autoren behandeln, die man nicht mag) oder aber als hervorragend ausgebildet (wenn sie Autoren lesen, die man mag).

II. Die Marginalisierung der Erforschung des Marginalisierten

Natürlich hat auch marginalisierte Forschung nur deswegen, weil sie marginalisiert ist, keinen Wahrheitsvorsprung. Sie muss an den gleichen strengen Kriterien gemessen werden wie die etablierte Forschung des „common sense“ und des „state of the art“. Genaugenommen ist die Unterscheidung zwischen marginalisiert und arriviert aber ein Zeichen dafür, dass man genau hinsehen muss: Ist etwas marginalisiert, weil es eine schlecht begründete Minderheitenmeinung ist? Oder ist etwas marginalisiert, weil es sich in Machtkontexten nicht durchsetzen konnte? Wie auch im Fall der oben beschriebenen Willkürrhetorik neigen arrivierte Forscher und Lehrer dazu, hier idealiter und realiter zu vertauschen: Weil man redlich diskutieren will, wird auch redlich diskutiert – und die Klage über strukturelle Probleme und Machtkontexte ist nur eine Ausflucht derjenigen, die sich eben mit ihren Argumenten in diesem idealen, herrschaftsfreien Diskurs nicht durchsetzen konnten.

So ergeht es auch Forschern wie Martin Mulsow, Wim Klever oder Ulrich Johannes Schneider. Ihre Gegenstände sind jeweils selbst marginalisierte Positionen. Bei Mulsow sind es Texte, die auch aufgrund ihrer klandestinen Natur keinen Eingang in die breite Rezeption und das daraus konstruierte Aufklärungsnarrativ gefunden haben. Bei Klever und Schneider ist es die Philosophie Spinozas, die beide als wesentlichen Prüfstein der offiziellen Doxographie behandelt haben.

Schneider hat in seiner Habilitationsschrift am Beispiel der universitären Lehre zu Spinoza auch Formen der doxographischen Verschleierung und Verdunkelung offengelegt, mittels derer die Verbannung des niederländischen Philosophen aus der orthodoxen jüdischen Gemeinschaft, die Ächtbarkeit seines Namens und Werks, die nach seinem Tod im Kontext der frühaufklärerischen Diskussionen fortgesetzt und fortgeschrieben wurde – durch Instrumentalisierungen und Verdammungen gleichermaßen –, an der Universität des 19. Jahrhunderts fortgesetzt wird. Und Wim Klever hat Forschung vorgelegt, die es erlaubt, die Texte von John Locke als der englischen zeitgenössischen Diskussion angepasste Überarbeitungen wesentlicher Thesen von Spinoza zu lesen, dessen Werk und Vorgehensweise damit an die Wurzel der Aufklärung gehört.

Doch weiterhin wird an den Universitäten, trotz seit nun fast zwanzig Jahren verfügbarer Forschung, John Locke als Begründer des Liberalismus und Spinoza als wahlweise Determinist, Pantheist oder Monist gelehrt, auf jeden Fall als extreme Position, die nur als erwähnenswerte Nebenfigur eine Rolle spielt. Diese Darstellung lässt sich weder durch die Hochachtung Leibnizens vor Spinoza irritieren, noch durch die Tatsache, dass es ohne Spinoza (vermittelt durch Lessing, Goethe, Jacobi) keinen Fichte, keinen Hölderlin, keinen Schelling und keinen Hegel geben würde, wie wir sie heute kennen. Überhaupt vermittelt einem die Lektüre von Mulsows „Radikaler Frühaufklärung“ den Eindruck, dass die Debatten des Deutschen Idealismus, die seine Vertreter geführt haben und in die er eingebettet war, nur die späte Veredelung von Theoremen und Denkfiguren ist, die bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert ihre Ausbildung erfahren haben. Doch um von dem Cambridge-Platoniker Ralph Cudworth zu lesen, dessen „True Intellectual System of the Universe“ mit Pico della Mirandolas „900 Thesen“ zu den philosophiekomparatistischen Hauptwerken der philosophia perennis gehört, muss man schon tief graben. Jan Assmann hat in seinem „Moses der Ägypter“ im Kontext der Ägyptenrezeption der Frühen Neuzeit auf die Verbindungen zwischen Cudworth und der Zeit des Sturm und Drang hingewiesen. Die Hegelforschung interessiert das nicht sonderlich – für sie sind ihre Autoren alles Originalgenies.

Die Marginalisierung von Darstellungen des Marginalisierten setzt sich auch im Feuilleton fort. Dafür muss man nicht zur Holzhammerhermeneutik vieler Populärphilosophen herabsteigen, die Verständlichkeit am zu erwartenden Publikumsapplaus messen. Es reicht, sich anzusehen, wie Historiker philosophiegeschichtliche Abhandlungen rezensieren (dasselbe könnte man mit Rezensionen von politischer Philosophie durch Politikwissenschaftler oder Philosophie überhaupt durch Soziologen zeigen).

III. Unredliche Techniken der Delegitimierung

So hat der Schweizer Historiker Caspar Hirschi am 1. Februar diesen Jahres Martin Mulsows nun zweibändige Neuausgabe seiner Habilitationsschrift für die FAZ rezensiert. Er beginnt die Rezension mit zwei eigenen Statements zur Aufklärung, die den Rahmen für die Rezension setzen, aber bereits erahnen lassen, dass dieser Rahmen mehr als nur eine rhetorische Funktion besitzt. Im nächsten Schritt konstruiert er eine relativistisch gespaltene Forschungslandschaft, die sich noch auf kein „Standardwissen“ einigen konnte. Dass die Forschung zur Frühaufklärung präzise gegen ein faktisch etabliertes Standardwissen formuliert ist, das den akademischen Diskurs seit zwei Jahrhunderten mehr oder weniger dominiert, gerät durch diese Konstruktion aus dem Blick. Innerhalb dieser relativistischen Landschaft erscheinen „[e]inzelne Erklärungsansätze“, wodurch im Zusammenhang mit den eingangs formulierten Sätzen der Anspruch bereits unüberbietbar hoch angesetzt ist. Denn nun lautet die Frage, an der Mulsow gemessen wird: Wie war Aufklärung möglich? Wie ist der „Durchbruch unerhörter Denkhaltungen“ zu erklären?

Dass Mulsow diese Fragen gar nicht beantworten will, ist dieser Konstruktion egal. Sie tut einfach so, als wolle er die Aufklärung insgesamt erklären. Diesen Höchstanspruch kombiniert Hirschi nun mit einem subjektivistischen Aspekt. Mulsow, so der Rezensent weiter, arbeitet nicht aus historischen Quellen Zusammenhänge heraus, wobei sichere, wahrscheinliche, vermutete und spekulative Folgerungen klar getrennt werden. Nein, Mulsow erzählt eine Geschichte, genauer: „eine heroische Erzählung.“ Diese Erzählung leitet der Rezensent nicht aus dem Text selbst ab, sondern – ironischerweise – aus der eigenen Erzählung: „[A]m Anfang der Aufklärung eine Schar radikaler Hochrisikodenker, getrieben vom unstillbaren Hunger nach verbotenen Früchten … und getragen von der Bereitschaft, für ihre gelehrten Leidenschaften den Preis einer gefährdeten Schattenexistenz zu bezahlen.“

Nichts davon findet sich in Mulsows Texten. Kaum einer der genannten Autoren führt eine „gefährdet[e] Schattenexistenz“. Es ist geradezu Mulsows Pointe, dass er zwischen sozialer und klandestiner Rolle unterscheidet und so seine Beschreibung als Ergänzung anschlussfähig an bestehende Forschung macht. Dem Historiker Hirschi ist das egal. An dieser Stelle in seiner Rezension hat er seinen Strohmann gefunden: „Das wissenschaftliche Werk von Martin Mulsow steht im deutschsprachigen Raum wie kein zweites für die heroische Erzählung.“ Weil ihm diese Zurichtung eines Gesamtwerks aber nicht reicht, ergänzt er sie durch eine grobe Verfälschung der Darstellungsweise: Wo Mulsow mit den Metaphern des Netzwerks, der einander überschneidenden Kreise, mit der vielfachen Anschlussfähigkeit von Mehrdeutigkeit, satirischer Ironie und sozialem Rollenspiel arbeitet – also einem horizontal-rhizomatischen System –, unterstellt ihm Hirschi „eine Art Unterbau-Überbau-Modell“, in dem die Helden der Frühaufklärung gegen die Helden der Aufklärung ausgespielt werden sollen. Spätestens hier kann man sich des Eindrucks einer performativ anzeigenden Argumentation nicht mehr erwehren.

Dass der Rezensent auch sonst schlecht zwischen eigenem Urteil und gelesenem Text unterscheiden kann, wird im weiteren Verlauf immer deutlicher. Wenn Mulsow irgendwo von „Untergrund“ spricht, schiebt ihm Hirschi die eigene Assoziation „zu den Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts“ unter. Wo gerade noch von „Unterbau-Überbau-Modell“ die Rede war, ist nun der Begriff „Wissensbourgeoisie“ anachronistisch und daher ungeeignet. Der Historiker, der zwischen Auslegung und Ausgelegtem nicht unterscheiden kann, unterstellt Mulsow also die Vermengung historischer Kontexte in einer Darstellung, die ansonsten „mit bewundernswerter Quellenkenntnis“ dargestellt sind. Soviel Fantasie muss man aufbringen, um marginale Forschung über Marginales zu marginalisieren. Natürlich nimmt Hirschi den vorher etablierten Anachronismusverdacht rhetorisch gleich wieder zurück, aber nur, um ihn durch die Leerformel zu ersetzen, „ob die anachronistischen Assoziationen einen heuristischen Mehrwert schaffen.“ Da Heuristik von der Hinsicht abhängig ist, kann man sagen: je nachdem. Was hängenbleibt, ist der Verdacht.

Aber auch hier ist die rhetorische Konstruktion nur die Vorbereitung einer weiteren. Der Anachronismusverdacht erlaubt Hirschi die paternalistische Formulierung von der „kühnen Sprache“, von der Mulsow nun „Abstand genommen“ habe – und damit die Maßstab-Frage, ob das denn auch für die – vorher von Hirschi als solche konstruierte – problematische Vorgehensweise gilt. Auch das wird paternalistisch formuliert: ein „reflexives Innehalten“ des Autors wäre „zu begrüßen gewesen“. Der Konjunktiv zeigt an, worauf das Ganze hinausläuft: Leider, leider hat sich der Autor nicht noch einmal besonnen, hat nichts aus seinen Fehlern gelernt, nicht kritisch reflektiert. Dieser unverschämte Vorwurf steht hier einzig auf dem Boden von Hirschis rhetorischen Konstruktionen, die ihm offenbar eine solche Sicherheit vermitteln, dass er akademische Umgangsformen, zumal im interdisziplinären Gespräch, einfach ignoriert.

Und so wiederholt sich das Schema: Mulsow, der Unreflektierte, begibt sich „auf die nächste Abenteuerreise“, von der er heroische Geschichten mitbringt. Was vorher noch als „bewundernswert[e] Quellenkenntnis“ gewürdigt wurde, erscheint nun, polemisch, als „kleinteilige Fallstudien zu … kauzigen Figuren“. Am Ende des zweiten Bandes, der hier besprochen wird, fällt für den Rezensenten alles auseinander, weil die kurze Zusammenfassung irgendwie nicht zu dem „Unterbau“ passen will, den er dem Autor selbst unterstellt hat. Dass der zweite Band in der Neuauflage des ersten explizit als Ergänzung und Erweiterung verstanden wird, wird ausgeblendet, um eine fehlende „konzeptionelle Klammer“ zu beklagen.

Am Ende gibt Hirschi doch noch ein Beispiel für die Darstellungsweise Mulsows, die dieser zu Beginn des ersten Bandes als Konkretisierung abstrakter ideengeschichtlicher Rezeptionskonzepte einführt. Mulsow, so Hirschi, stelle Urban Gottfried Bucher so dar, dass dieser „zuerst als Respondent einer universitären Disputation theologisches Glatteis betreten hab[e], ohne die eigene Argumentation anfänglich ernst zu nehmen. Erst danach sei er richtig auf den Geschmack gekommen.“

Diese konkrete Beschreibung einer am Quellenmaterial herausgearbeiteten Auseinandersetzung dient dem Rezensenten aber wieder nur als Absprungpunkt, denn andere Fälle (die man ja auch hätte nennen können), verwiesen, so Hirschi, „auf eine schleichende Verdrängung theologischer durch naturphilosophische Erklärungen“. Genau um die Destruktion solcher abstrakter ideengeschichtlicher Kategorien – „schleichende Verdrängung“, „Einfluss“ – geht es Mulsow. Für Hirschi passt aber dieser Befund – der im ersten Band in nahezu jedem Kapitel den den dort geschilderten Diskussionsbewegungen greifbar wird – nicht dazu. Wozu? Zu der von ihm unterstellten „heroischen Erzählung“.

IV. Ein Diskurs, der sich selbst schadet

Hirschis Rezension, die Rezension eines akademischen Fachbuchs durch einen Akademiker im Feuilleton der FAZ, steht für unzählige Besprechungen, in denen Rezensenten ihre Vorstellungen, ihre Ansprüche, ihre Assoziationen und ihre Erwartungen zum Maßstab der dort besprochenen Texte machen und triviale, weil willkürliche Folgerungen daraus ziehen.

Was im Bereich der Literatur und auch noch der Sachbuchliteratur zum Spiel um Aufmerksamkeit, zum politisch aufgeladenen Kampf um Deutungshoheiten dazugehört, richtet in der Wissenschaft erheblichen Schaden an. Denn nicht nur Rezensionen, auch ganze historische Rezeptionen – z. B. der Analytischen Philosophie – und ganze Forschungsdiskussionen – auf Tagungen, in Zeitschriften, in Kolloquien und Seminaren – folgen diesem Schema. Und weil in der Forschung alles zum Forschungsgegenstand werden kann, setzt die Historisierung von unwissenschaftlichem und unredlichem Forschen und Diskutieren oft schneller ein, als dieses Forschen und Diskutieren kritisch befragt werden kann.

Damit sind wir am Anfang angekommen. Denn genau diese Historisierung führt dazu, dass sich Doxographien ausbilden können, die philosophische Positionen nivellieren und zu einem homogenen Bereich der weltanschaulichen Meinungen machen, in dem alles irgendwie gleichwertig nebeneinander gesetzt erscheint. Es ist dieses Kontinuum von einfachen Positionen, in dem die Ideengeschichte und die Doxographie sich bewegen und „schleichende Verdrängungen“ oder „Einflüsse“ oder „geistige Abhängigkeiten“ von Denkern text- und geschichtsfremd konstruieren oder gleich, wie Hirschi, abstrakte und anachronistische Etiketten wie „theologisch“ und „naturphilosophisch“ – für die Frühe Neuzeit nicht zu trennen – zu den eigentlichen Akteuren der Ideengeschichte machen, die dann wiederum Gelehrte wie Bucher und Müller, oder auch Locke und Spinoza, zu bloßen Trägern solcher Positionen werden lässt.

Ich habe, in verschiedenen Medien, immer wieder Rezensionen meiner eigenen Texte besprochen, weil auch ich vom Text her und nicht mit abstrakten ideengeschichtlichen Ersatzakteuren argumentiere. Das wurde mir oft als Kritikunfähigkeit ausgelegt. Tatsächlich ging es mir dabei aber stets darum, sichtbar zu machen, wie der öffentliche Diskurs einen Verblendungszusammenhang herstellt, der auf der einen Seite geradezu hysterisch auf primitive Provokationen anspringt, auf der anderen Seite aber gerade die Perspektiven, die ihm bei der Bewältigung dieser Provokationen helfen könnten, gnadenlos marginalisiert.

Dasselbe ließe sich für den akademischen philosophischen und historischen Diskurs (und andere Diskurse) zeigen. Auch hier macht es die stetige Ventilation des einmal als „Standardmeinung“ Akzeptierten es wenn nicht unmöglich, so doch unverhältnismäßig schwer, diese „Standardmeinungen“ einer kritischen Revision zu unterziehen. Dass die holzschnittartige Auffassung der Tradition, die doch so reich an Vielfalt und vielfältigen Lektionen ist, auch praktisch die geistigen Abwehrkräfte schwächt, können wir jeden Tag beobachten. Ändern können wir daran aber nur etwas, wenn wir Marginalisierung nicht gleich als Erebnis eines abgeschlossenen Erkenntnisprozesses betrachten, sondern als Praxis, die jederzeit auf ihre Urteile und Voraussetzungen befragt werden muss.

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